Bibliographie* der Veröffentlichungen von Klaus Heinrich, Textauszüge und Bilder:

- Mein Mitmensch Goethe, in: Freie Universität Berlin. Mitteilungen für Dozenten und Studenten, hrsg. v. Georg Kennert und Friedrich v. Sell, Heft 7 (Goethe. Jubiläums-Sonderausgabe), Berlin-Lichterfelde-West, 28. August 1949, Blatt 3 f.

- Die Kratermöwe. - Das Lied von der großen Bange. - Ballade vom Muttertag. - Jeannette tanzt Tango. - Gute Nacht. Mülleimer. Gute Nacht  Eine Radiogespräch vorm Abendsschlafengehn. - Sein Gesicht, in: Die Dichter-Bühne für Namenlose der Gegenwart, auf welcher 63 Dichter und 34 Dichterinnen deutscher Zunge zu Worte kommen, ausgew. u. hrsg. v. Robert v. Radetzky u. Erich Blaschker, Berlin 1950, S. 85-93

Die Kratermöwe

Die kratermöwe ist kein vogel
wie andere vögel vögel sind.
Das macht, sie ist ein ungeborenes kind.
Kind, kind, totes kind.
weißer segler über der trümmerstadt.
die kratermöwe hat zwei flügel,
die hängen traurig in dem wind.
Das sind zwei weiße ärmelein,
von deinem kind die ärmlein klein,
die hängen in dem wind.
Kind, kind, totes kind,
weißer segler über der trümmerstadt.

Die kratermöwe, in den nächten,
da hebt sie heimlich an zu schrein.
Sie schreit nach milch in deinen brüsten und ihren toten brüderlein,
sie schreit und schreit die ganze nacht, wo wir zur ruh gegangen sind,
sie schreit: warum sind meine flügel lahm?
sie schreit: warum sind meine äuglein blind?
sie schreit und schreit die ganze nacht, bis wir am morgen einsam sind.
Kind, kind, totes kind,
weißer segler über der trümmerstadt.

- Versuch über das Fragen und die Frage. Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie der Philosophischen Fakultät der Freien Universität Berlin, Berlin 1952 (ungedruckt).

- Geschlechterspannung und Emanzipation, in: Das Argument, 4. Jg. 1962, Nr. 23 (Emanzipation der Frau II), S. 22-25 Der Titel wie fünf Fragen waren von der Argument-Redaktion vorgegeben. Vor der ersten Frage finden wir einen Einwand von Klaus Heinrich: "'Emanzipation' ist ein Wort aus der Sklavenhaltersprache. Der Emanzipierte (sei es Sklave, Jude, Frau) blieb minderen Rechts. Man sollte das Wort nur gebrauchen, wenn man sich bei seinem Gebrauch immer vor Augen hält, daß Frauen und Männer in gleichem Maße emanzipationsbedürftig sind, beide zugleich Sklavenhalter und Sklaven, und daß (ein unerhörter Vorgang in der Sklavenhaltersprache) Emanzipation heute Selbstfreigabe bedeuten muß. Unter diesem Vorbehalt beantworte ich Ihre Fragen. ...
3. Welche konkreten Forderungen an die Einzelnen wie an die Gesellschaft ergeben sich Ihres Erachtens, will man die Emanzipation beider Geschlechter von einem Verhältnis der Beherrschung zu einem Verhältnis möglichst allseitig sich entfaltender Menschlichkeit befördern?
Ich weiß, daß konkrete Vorschläge (also das berühmte 'Positive') als theoretische Kurzschlüsse belächelt werden. Trotzdem will ich einen solchen Vorschlag machen. Alle Versuche, die Geschlechterspannung gerecht zu formulieren (nicht nur in Worten, sondern im Zusammenleben der Gesellschaft) werden solange unzureichend sein, wie nicht das Prinzip der Koedukation aus einem bloß passiven in ein aktives umgewandelt wird, und das heißt praktisch zuerst: paritätische Beteiligung der Geschlechter an den obersten Funktionen der Gesellschaft, also Legislative, Exekutive, Justiz. Ich finde, dieser Vorschlag sollte nicht belächelt, sondern ernsthaft diskutiert werden. Ohne seine Verwirklichung wird jede Beteuerung gleicher Chancen, gleichen Rechtschutzes, gleicher sozialer Stellung (und übrigens auch der Wahrung der 'Besonderheiten' der Frau) illusorisch sein. Was einem Rundfunkrat zwecks allseitiger Anpassung und Vermeidung jeglichen Anstoßes gegenüber den akkreditierten Interessenverbänden billig ist, sollte dem Parlament, der Regierung, der Justiz gegenüber den Menschen, diesen zweigeschlechtlichen Wesen, nur recht sein. Auch wenn die Gesellschaft dadurch nicht gleich emanzipiert sein wird, wird sie sich vielleicht nicht emanzipieren lassen, ohne daß sie diesen Schritt erst einmal macht. Vielleicht würde sie manche Probleme ernsthafter ansehen müssen, wenn ihr der Ausweg versperrt ist, sie auf Kosten einer ungelösten Geschlechterspannung in neurotisch fixierten Geschlechterrollen zu verkrusten."

- Die Quellen der Belehrung, in: Das Argument, 6. Jg. 1964, Nr. 29 (Schule und Erziehung I), S. 105 ff. Vorabdruck aus:

-  Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen, Frankfurt/M. 1964. Verbesserte, durch ein Nachwort erweiterte Neuauflage, Basel und Frankfurt/M. 1982, 1985 (2. Aufl.).
Daraus druckte der Suhrkamp Verlag vorab den Exkurs über Herrn K. in Dichten und Trachten 24 (2. Halbjahr 1964), S. 49-54

Hier der "Exkurs Über Buddhismus als Ausweg" (S.123-129):

 I 

„Wer die Schaumwelt beschreibt (schon Leben in ihr ist eine Beschreibung), sucht einen Ausweg aus ihr. Der Buddhismus[i] bietet einen Ausweg an, den viele gehen, die ihre kleinen oder großen oder abartigen Interessen haben oder auch nur das eine Interesse, diese alle verächtlich zu machen: Geschäftsleute und Politiker, Künstler und Philosophen. Er verspricht Befreiung nicht von den realen Leiden (dies dauern an, sie werden nicht einmal unsichtbar, und für den, der sie teilt, werden Anleitungen ersonnen, sie zu genießen), sondern von dem einen Leiden, über das keine der Anleitungen trösten kann, die ihm entspringen: dem Leiden an Sinnlosigkeit. Es zu genießen ist nicht erlaubt (das würde den Absatz der Produkte schmälern, die ebenso viele Betäubungsmittel für jenes Leiden sind), es zu betäuben selbst dem versagt, der durch verzweifelte Tricks oder fröhliche Veranstaltungen sich von ihm scheidet. Doch keine seiner Scheidungen gelingt. Auch wenn der Logistiker ein Kriterium ersinnt, das sinnlose von sinnvollen Sätzen scheiden soll, und mit Hilfe dieses Kriteriums den Gebrauch sinnloser Sätze untersagt, auch wenn der Mystiker des wahren Seyns oder des fernen Gottes oder der konsolidierten Gesellschaft Sprachlosigkeit aus einem Leiden in eine Gnade umkehrt (und Mystiker und Logistiker dieser Art bringen unsere Unterhaltungen zum Verstummen, leicht zerstören sie mit der Sprache zugleich unser Leben), so ist doch ebenso die Unterscheidung, die jener trifft, wie das hochmütige Sichbescheiden, das dieser lehrt, ein Ausdruck des Erschreckens vor Sinnlosigkeit. – Manchmal scheint es fast unmöglich zu sein, einen Ausdruck zu finden, der frei davon ist. Noch die Beschimpfungen der Dafaitisten (und keine Menschen- | gruppe heute, die nicht ihre Defaitisten hätte, die sie beschimpft) sind ein kollektives Abwälzen der Sinnlosigkeit. Aber wie wenig das gelingt, demonstriert eine Literatur, die gerade dort fasziniert, wo sie die verhehlte Sinnlosigkeit eingesteht. Aber wer kann so leben? Ein Leben, das ein Geständnis wäre, sozusagen die negative Form des Sinnes, wäre nicht weniger bedroht als das Kunstwerk, das es beschreibt. Es wäre ein Sinnversuch, doch den teilt es mit allem Leben. ‚Es kann doch nicht sinnlos sein’ ist eine Antwort, die ‚bleibt’. Aber hat ‚’bleiben’ einen Sinn und ‚nicht-bleiben’ keinen? Hat wenigstens ‚Überleben’ einen Sinn?

 II

 Der Versuch, die vertanen Stunden zu zählen, endet in Grauen. Nicht die Übermacht des Sinnlosen macht uns erschrecken, sonder die Frage, ob Sinn angesichts solcher Übermacht nicht ein Lückenbüßer, ein misslingender Versuch, selbst eine Ausflucht ist. Allerdings warum suchen wir nach Sinn? Ist das auch Ausflucht? – Der Buddhist sagt ja. Er sagt, solange wir suchen (und fragen ist eine der Formen, in denen sich unser Suchen manifestiert), flüchten wir vor der Erkenntnis, die wir vorgeben zu suchen. Die vertanen Stunden könnten uns näher an die Erkenntnis herangeführt haben, als wir uns eingestehen. Nicht eine Drehung unseres Denkens tut not, auch nicht die Absage ans Denken, sondern der Ausgang aus dem Stande der Entzweiung: zwischen Sinn und Unsinn, Denken und Denkverzicht, Erkennen und Nichterkennen[ii]. Nur Metaphern sind die Begriffe, an die der Gläubige sein Herz hängt: die Erkenntnis des wahren Seins als des großen Nichts alles Seienden, die Erleuchtung des Buddha. Solange er noch sein Herz an diese Begriffe hängt, die er aussprechen, artikulieren und vor der Missdeutung beschützen muß (darum, in diesem Stande noch die Wächterrolle des Denken, der Philosophie), hängt er noch im Schein des Entzweiten. Erlösung von der Entzweiung ist erst dort, wo nicht einmal der Begriff der Entzweiung hinreicht. Sprachlosigkeit, Gestorbensein bei lebendigen Leibe (d.h. Leben, aber ohne den entzweienden Leib), Eingetauchtsein ins Ununterschiedene, aber wirklich: Eingetauchtsein, nicht bloß die Rede vom Eintauchen, das ist das Ziel. Hierzu gibt es nicht eine spezielle Vorbereitung, obschon jede der buddhistischen Schulen eine Schule der speziellen Vorbereitung ist. Alle Formen des Lebens, vor allem die der Formlosigkeit nahestehenden, weniger festgefahrenen, weil weniger mit Erinnerungen und Hoffnungen endlicher Ziele aufgeladenen Formen sind Vorbereitungen hierzu. Sich nicht dem Grauen verschließen, das den Enttäuschten überfällt, heißt eine Seligkeit kennenlernen, die zum Freisein von Gelingen und Nichtgelingen, freilich auch zum Freisein vom Genuß der Seligkeit befreit. Wo alle Opfer nicht hinreichen, weil sie immer nur Opfer des Teils, immer weniger als das Ganze sind, dahin reicht das Opfer des Opferns selbst, das auch nicht die Erinnerung bewahrt an Ganzes und Teil. – Mit diesem Opfer wird die Dialektik des Opferns ausgelöscht, als wäre sie nie gewesen. Solange es noch möglich war, den Opfernden und sein Opfer zu unterscheiden (und auch beim Selbstopfer ist das opfernde Selbst nicht das geopferte Selbst), war jedes Opfer Hingabe einerseits und Anschluß an das Ganze, dessen Anspruch durch die Hingabe versöhnt erscheint, Loskauf andererseits und Betrug am Ganzen, dessen Anspruch unversöhnlich fortbesteht und über das Opfern hinaus (über jedes Opfer hinaus) nach dem Opfernden | greift. Das Opfer des Opferns ist das buddhistische Gegenbild der christlichen Rechtfertigungslehre: was hier der Gnadenakt des Sich-Verkörperns, der die Dialektik des Opferns zum Stehen bringt, ist dort, der Macht des Opfernden entzogen, die ihm als Gnadenakt geschehende Entkörperung.

 III

 Doch auch der Buddhist braucht Verkörperungen, in denen ihm das Gelingen seines Opfers vor Augen steht, Verkörperungen, die Augen haben, unter denen er sein Leben führen kann. Wo findet er sie? Nicht in einer dem Nichtsein widerstehenden Welt, wenn Nichtsein heißt: Teilhabe der Welt an Entstehen oder Vergehen. Sondern in einer Welt, die dem Nichtsein widersteht, wenn Nichtsein heißt: eine Welt des Entstehens und Vergehens. Aber dieses Widerstehen ist nicht Wider-Stehen, es ist auch kein Zerbrochenwerden, seine Verkörperungen sind Verkörperungen des Entschwindens und der Vorbereitung darauf. Von den Naturreligionen nimmt es den Rausch, das Aufgehen im Überströmen, das liebende und das zerstörerische Sichvermischen, das von der Last der Individuation befreit. Aber Rausch, der nicht mit völligen Verlöschen endet, erzeugt den Katzenjammer und die Begierde nach neuem Rausch.  Darum tritt neben den groben Rausch, dessen Ziel die Vereinigung ist in der Indifferenz von Verschlungenwerden und Verschlingen, ein feinerer Rausch, subtiler und sublimer zugleich, aber, wie Selbstbeobachtung und die Geschichte der Religionen lehren, niemals im Gegensatz zu ihm: der Rausch von Meditation und Askese. Allerdings haben diese beiden Begriffe hier ihren klassisch-antiken Sinn verloren. Meditatio hat nichts | mehr mit Maß und Messen zu tun, weder dem eines Priesterwissens, das Himmel und Erde im Gleichmaß vereint, so wie es einmal den ewigen Fortbestand der alten orientalischen ‚Reiche’ verbürgen sollte[iii], noch dem eines ‚emanzipierten’ Philosophierens, das jenes Gleichmaß im Menschen selbst verkörpert sieht, für das der Mensch ein ‚autonomes’ Individuum ist, weil und solange er jenes Maß verkörpert. Meditatio, ursprünglich ‚Maßhalten’, wird in der indischen und, dieser folgend, aller östlichen Spekulation zu einer Methode des Aufgehens im Maßlosen. Und Askese verliert hier ihren Sinn, ‚Übung’ des Körpers wie des in ihm verkörperten Geistes zu sein, um beide ‚in Form’ zu halten, eine aller antiken Erziehung notwendige Übung, weil ständig Ungeformtes, me on, widerstrebende Materie formzerstörend die schwachen Formen bedroht, die darum desto vollkommener erscheinen, je höher sie sich über die widerstrebende Materie erheben, freilich auch desto ohnmächtiger werden, je tiefer sie diese unversöhnt unter sich liegen lassen. Askesis, ursprünglich gerichtet auf Form, wird zu einer Praxis des leibhaftigen Entschwindens, die zwar unendlich viele Formen kennt, esoterische und exoterische, deren Sinn aber die Absage des Geformten an die Formen ist; nicht zugunsten des Ungeformten, über das der kultivierte Asket ebenso naserümpfend sich erhebt wie nur ein griechischer Weiser oder dessen moderne Nacheiferer, sondern zugunsten einer nur mühsam zu erreichenden endgültigen Formlosigkeit. Formen, die Form-losigkeit sichtbar machen, weil sie ein Übergang sind, selbst schon entschwindend oder die Sammlung verkörpernd vor dem Entschwinden, können die raffiniertesten Gebilde sein. Doch Natur, die in sie eingeht, ist nicht der Widerstand, den überwunden zu haben, aber als versöhnten sichtbar hervortreten zu lassen, | den Qualitätsbegriff aller abendländischen Kunstwerke bestimmt, sondern das in die ‚große Befreiung’ brüderlich hereingenommene, unter der Verkörperung mitleidende eigene Anderssein. Verkörperungen des Sich-Entkörperns, anschaubar ebenso im Einzelding, das nur den Schein der Dauer hat, wie in der sinnenverwirrenden Vervielfältigung aller Formen, die dadurch ihre Individuation selbst widerrufen, bedeuten ebenso die Werke der Kunst wie die Regeln des Umgangs mit solchen Werken. Wird das Einzelne fixiert, so nur als Durchgang, als ein Tor zum Nicht-Fixierbaren. Wandert das Auge weiter, so ist auch das Weiterwandern eine Übung im ‚Nichthaftenbleiben’. Der Rausch der Vertiefung und der Rausch des Darüberfliegens, Konzentration und Ermüdung dienen dem gleichen Ziel. Aber was vom Kunstwerk oder Kunstbild gilt (selbst ein  Unterschied, der angesichts eines solchen Verfahrens verschwindet), gilt von der meditierenden Betrachtung jedes Stücks der Wirklichkeit, den Worten des Buddha an seine ungeduldigen Schüler wie all den ‚unpassenden’ Antworten berühmter Weisheitslehrer oder Heiliger oder Asketen, die durch unmotivierten Wechsel des Themas oder Hindeuten auf einen beliebigen Gegenstand (da dieser Bach, dort der Baum, ein Gefäß, eine Pfütze) oder auch durch scheinbar uninteressiertes, in Wirklichkeit die Frage selbst zurückweisendes Schweigen Antwort geben. Man kann dieses Verhalten weder existenzialistisch noch essentialistisch nennen, denn die Spannung von Essenz und Existenz, die alle Epochen unserer Geschichte begleitet und die noch in den einseitigsten Formulierungen des Konflikts (eben dadurch, daß er ausgesprochen wird) versöhnt erscheint, ist hier nicht die Formulierung zweier Seiten, sondern nur der einen. Form und Ungeformtes, Reden und Schweigen, Verändern und Hinnehmen, Sinn- | volles und Sinnwidriges gehören, sofern sie Ausdruck von Konflikten sind oder auch nur der Möglichkeit sind, solche zu formulieren, auf die eine Seite. Aber eben damit hört diese auf, eine fixierbare ‚Seite’ zu sein. Für den Unwissenden ein Formenchaos, in das er sich verstrickt, ist sie für den ‚Erleuchteten’ nur ein Übergang. Nichts bezeichnet deutlicher den Charakter buddhistischer oder hinduistischer Toleranz, die alles hinnehmen kann, weil es auf nichts ankommt, als die Kritik, die ein berühmter buddhistischer Autor[iv] an dem obersten Symbol des Christentums, dem Gekreuzigten, übt: schon die Betonung der Vertikalen, des Standhaltens, des Widerstehens macht den Gekreuzigten untauglich zum Erlösungssymbol. Aber das ‚Selbst’, das da gekreuzigt wird, war nur ein ‚böser Traum’. Der ‚Feind, der uns unablässig im Alarmzustand hält’, existiert nicht. ‚Daß Christus aufrecht am Kreuz starb, während Buddha liegend verschied’, symbolisiert den ‚fundamentalen Unterschied zwischen Buddhismus und Christentum’. Der Liegende kann sich ‚mit allen Dingen  identifizieren’, nicht um endlich ein ‚autonomes’ Selbst zu sein – der Mikrokosmos, dessen Identität die Gleichsetzung des Individuellen mit dem Universalen verbürgt -, sondern um, erlöst vom Fluch der Individuation, in Gemeinschaft einzugehen mit allen Wesen: Identität, die ein anderes ‚principium identitatis indiscernibilium’ umschreibt; eines, dem nichts mehr unterliegt, weil es sich in nichts mehr verkörpert. Der Tod des liegenden Buddha ist so gut ein kosmisches Symbol wie der Tod Jesu als des Christus. Aber wie hier die Erlösung des Kosmos ein Dennoch-Heilwerden, ein Zusichkommen des Kosmos, eine Erlösung zu seiner wahren Gestalt, die Selbst-Aufgabe des Kosmos in allen seinen Gliedern, seine Erlösung von sich.“


[i] Zur Verarbeitung des Buddhismus: die letzte große Darstellung in Heinrich Zimmers nachgelassene, von Joseph Campbell herausgegebenem Werk Philosophie und Religion Indiens, dtsche. Ausg. Zürich 1961; kennzeichnend für die buddhistische Verlockung heute: die erstaunliche Zahl von Taschenbuchausgaben fernöstlicher, vor allem zenbuddhistischer Texte und der Erläuterung derartiger Texte durch einheimische Autoren (an ihrer Spitze Suzuki); der Einfluß der Haiku-Poesie auf die Lyrik und der einer Meditationskunst auf alle europäischen Künste: vor allem Malerei, Film und Architektur, bes. Innenarchitektur. – Diese vierte große Welle ‚fernöstlichen Einflusses’ (nach der Chinoiserie und Japanoiserie des 18. Jahrhunderts, der Todesbereitschaft des 19. Jahrhunderts – Schopenhauer, Fechner – und der Atmansuche der zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts) wächst noch an. Sie hat den meditierenden Charakter (...) des Zen, der auch in seinem Ursprungsland schon oft den Vielbeschäftigten als Ausgleich diente.- Eine seismographische Übersetzung dieser Welle: die neueren Schriften Heideggers (vgl. z.B. die ausweichende Funktion seines Begriffes ‚Gelassenheit’; vgl. die auch auf seinen ‚Denkweg’ zurückschauenden Interpretationen in dem subtil geschilderten Gespräch mit einem Japaner in Unterwegs zur Sprache). – Erläuternd beschäftigen sich mit dieser ‚Welle’, soweit ich sehe, erst zwei deutsche Autoren in Taschenbüchern: Ingeborg Y. Wendt, Zen Japan und der Westen, und Klaus Th. Guenther, Protest der Jungen, beide München 1961. Guenther beschreibt den starken Einfluß von Zen auf die ‚beat generation’ (ein in deren Ursprungsland viel diskutiertes Problem) und sieht den Grund der Faszination (z.B. des Ryoanji-Gartens, einer Wüste mit wenigen auf ihr verteilten Steinen) in der geformten Leere. I. Wendt ist optimistischer; nach Betonung des japanischen Anderssein entlässt sie den Leser mit existenziellem Trost: Zen lehrt uns unsere ‚Schwäche aushalten’, er ‚wirft uns vom Denken ins Sein’.

[ii] Für die unendlichen Schwierigkeiten einer ernsthaften Meditation mit dem Ziel des ‚definitiv freimachenden und nicht haften bleibenden Samadhi’ (Ausdruck für Meditationsübung, zugleich Bezeichnung des Versenkungsgrads) ein einziges eindringliches Beispiel: A. M. Pozdnejevs Studie über Dhyana und Samadhi im mongolischen Lamaismus (dtsche. Ausg. Von Unkrig, Hannov. 1927, in Untersuchungen zur Geschichte des Buddhismus und verwandter Gebiete XXIII). – Sein Gewährsmann zählt ihm eine Stufenleiter von 116 Samadhistufen auf, deren jede Dutzende von Samadhis umfasst: Übungen für viele Kontemplantenleben. Der Kontemplant z.B., der die Samadhisstufe der völligen ‚Einfalt’ erreicht hat, hat die entscheidenden Stufen erst vor sich: die der grenzenlosen Leere; und, sobald sich diese als seine Vorstellung (Raum) entpuppt, erst jenseits ihrer die des schrankenlosen inhaltslosen Wissens; und, sobald er dessen Seinscharakter (Zeit) durchschaut, die des alle Illusionen verwerfenden Nichtseins; und, da Leidenschaft und Verfinsterung sich auch an dieses hängen, jenseits seiner die Verneinung von Denken und Nichtdenken, Verneinen und Nichtverneinen usf. Eindrucksvoll ist Pozdnejevs Schilderung der lebenverschlingenden dämonischen Selbstzerstörung durch Kontemplation.

[iii] Zu Meditation und Kontemplation als einer priesterlichen rituellen Vereinigung von Himmel und Erde, die diese zum Abbild des gestirnten Himmels macht, einem so festen totenstarren Reich wie er: vgl. die anregenden Überlegungen Rosenstock-Huessys (Soziologie II, Stg. 1958: Die Vollzahl der Zeiten, bes. S. 390 ff.) zur Soziologie der ‚Reiche’.

[iv] Daisetz Taitaro Suzuki, Der westliche und der östliche Weg (World Perspectives V, dtsch. Von L. u. W. Hilsbecher, Anhang S. 121 ff.: ‚Kreuzigung und Erleuchtung’) Bln. 1960, Ullsteintaschenbuch. – Dieses Buch ist dadurch besonders aufschlussreich (Originaltitel: Mysticism: Christian and Buddhist), daß es Meister Eckhart (Heideggers ‚alten Lese- und Lebemeister’ im Feldweg) mit Zen vergleicht.

 

- Paul Tillich (gestorben), in: Freie Universität. Mitteilungen für Dozenten und Studenten, hrsg. v. Senat, Kuratorialverwaltung und Studentenvertretung, Redaktion Monika Hensel, Nr. 106, Berlin, 1. Dezember 1965, S. 565.

- Antike Kyniker und Zynismus in der Gegenwart (Text der öffentlichen Antrittsvorlesung für das Fach "Religionswissenschaft mit besonderer Berücksichtigung der Religionsphilosophie", gehalten am 5. Februar 1964 an der Philosophischen Fakultät der Freien Universität Berlin), in: Das Argument.Berliner Hefte für Probleme der Gesellschaft, 8. Jg. 1966, nr. 37 (Theorien der Vergeblichkeit I: Zur Ideologiekritik des Nihilismus), S. 106-120. Vorabdruck aus:

- Parmenides und Jona. Vier Studien über das Verhältnis von Philosophie und Mythologie, Frankfurt/Main 1966. Verbesserte Neuauflage, erweitert durch eine Vorrede an meine japanischen Leser und eine Notiz zur Neuauflage, Basel und Frankfurt/M. 1982, 1992 (2. Aufl.)
Aus einem Brief von Klaus Heinrich an den Verlag nach Erscheinen von Parmenides und Jona, abgedruckt in: 15 Jahre. Almanach aufs Jahr 1986. Briefe, Entwürfe, Berichte, Bibliographie, hrsg. v. KD Wolff, Basel und Frankfurt/Main 1985: Dadurch, daß der ganze Umschlag jetzt zu einem Meer geworden ist (oder zu einem Luftozean, das tut nichts zur Sache), ist das Schiff mit seiner dreiköpfigen Besatzung - scheinbar nunmehr nur noch dreiköpfigen Besatzung - allein auf der Welt, und die Schlange samt dem längelang zweigeteilten Mann, der in sie gestopft wird, kann sich nie mehr davon lösen, sondern ist der Ballast unter ihm, den die drei mitschleppen: einen stärkeren Ausdruck der existenziellen Situation - nichts loszuwerden, nicht durch Rudern, nicht durch Wegstopfen, nicht durch Gestikulieren - kenne ich nicht. Und die Ausschneidetechnik, die Sie angewendet haben, bringt das Bräunlich-Grau der Szene in einen unheimlichen Gegensatz zu den Buchstaben der Schrift: im Gegensatz zu diesen ist ihr die Wohltat des Eintauchens samt Näherkommen, auf der Ebene, kein Vor oder Zurück in ihr - das Thema also, von dem das Buch handelt. Und noch etwas tritt deutlich hervor: das Drehmoment, dieser einzige Bewegungsimpuls, der auch nur von der Große-Mutter Schlange selbst ausgehen kann; wie realistisch.

- Erinnerungen an das Problem einer freien Universität (Rundfunkessay für das Berlin-Studio des Westdeutschen Rundfunks, gesendet im Februar 1967), in: Das Argument, 9. Jg., Nr. 43 (Wissenschaft als Politik I), S. 92-102

- Tillich, Paul, in: Hermann Kunisch, Handbuch der deutschen Gegenwartsliteratur. Redaktion Herbert Wiesner in Zusammenarbeit mit Christoph Stoll und Irena Zvisa, zweite, verbesserte und erweiterte Auflage, Band II, München 1970, S. 245 ff.

- Notizen über das Museum als Opferhöhle, in: Museum des Geldes. Über die seltsame Natur des Geldes in Kunst, Wissenschaft und Leben I, zusammengestellt und hrsg. v. Jürgen Harten und Horst Kurnitzky, Düsseldorf 1978, S. 11-15 und auf S. 105:
Das kleine Geldmuseum oder Wozu der Aufwand? 

"Sie haben keine Opferhöhle, Sie besitzen kein Museum? Sie haben auch keine Urfrau zur Hand? Wozu der Aufwand. Nehmen Sie Ihr Portemonnaie und stecken Sie ein paar blanke Münzen hinein. Vielleicht finden Sie sogar eine mit einer kleinen Durchbohrung. Die Urfrau freut sich. Vielleicht bergen Sie die Geldkatze in Ihrer Gesäßtasche. Dann und wann nehmen Sie Einblick, allein oder mit Freunden, und streicheln Ihren Schatz. Oder Sie stellen sich mit dem Rücken zum Waschbecken. Rom ist eine Grottenstadt. Werfen Sie eine Münze über die Schulter. Sagen Sie dazu die Worte: 'Ich komme wieder.' Noch ein Rat: Nehmen Sie ein, zwei hübsche blanke Kleinigkeiten. Vergraben Sie diese in einem Schächtelchen unter der Erde. Ihre Feinde trampeln achtlos drüber weg. Später können Sie im Beisein Ihrer Freunde die Höhle erbrechen. Sie schleppen den Schatz ins Zimmer. Dort haben Sie schon die Kommode gerichtet und ein paar Flaschen Wein kalt gestellt. Sprengen Sie den Rest über das Schächtelchen. Auch die Urfrau ist durstig. Oder Sie finden den Eingang nicht mehr. Wer weiß, wer jetzt Ihren Schatz heben wird. Sie können beruhigt sein: Die Zukunft gehört Ihnen."

- Zur Faszination östlicher Meditation und Askese, in: Radius, XXIV. Jg., Heft 2, 1979, S. 39 ff.

- Vorbemerkung zur Neuauflage von: Paul Tillich: Die sozialistische Entscheidung, Berlin 1980, S. 7-10:
"... es ist aufmerksam zu machen auf ein zentrales Buch des Widerstands in diesem Jahrhundert, ... Tillichs Buch, in allen seinen Analysen, stellt die Bündnisfrage. Wer das Bedürfnis nach Gerechtigkeit mobilisieren will, muß die Bündnispartner gegen den Verrat unter den sie Verratenden selber suchen, denn sie verraten auch ihr eigenes fundamentales Bedürfnis. Weil das Buch, materialiter und nicht bloß taktisch, diese Frage stellt, ist es heute wieder aktuell, in einer Zeit nicht bloß weltweit umgehender Diskreditierung - und Selbstdiskreditierung - des Sozialismus, sondern auch einer weltweit betriebenen Gespensterbeschwörung politischer Romantik inclusive der Wiederbelebung ursprungsmythischer Ontologie, auch und gerade, so als wäre dies das Unterpfand für einen neuen Idealismus, in der jüngeren und jüngsten Generation. Deren Unpolitischwerden - der Gefahr an unseren Universitäten heute, die ihrer Bürokratisierung in die Hand arbeitet - könnte dieses politische Buch eines Theologen entgegenwirken. ... Es lehrt ein politisch und theologisch exponiertes Denken kennen, das den 'wahren' Ursprung als die Forderung versteht, die mit den 'wirklichen' Ursprüngen nicht abgespeist werden, allerdings ohne deren Triebmacht auch nicht verwirklicht werden kann. ... Es wäre heute geeignet, eingedenk gerade der Bedürfnisanalyse, die es vorlegt, die Frage nach dem Nachleben des NS als 'Volksbewegung' kritischer (und das bedeutet, peinlicher) zu stellen, als dies den Theorien vom bloßen Krisenmanagement des Kapitalismus, die für Faschismus allgemein gültig sind, möglich ist, von den Theorien der Geschichtskatastrophe als Naturkatastrophe zu schweigen. Es ist also, wohlverstanden, ein Geschichtsbuch für die jüngere Generation, die aus ihm Nähe und Entfernung der eigenen Geschichte kennenlernen kann - und auch Nähe und Entfernung zu sich selbst, denn Selbstverwirklichung ist nicht zu haben unabhängig von der eigenen, wenn auch noch so wohl verdrängten Geschichte.
Angesichts des Erschreckens vor Wiederkünften, in denen anstelle der Durcharbeitung unserer jüngsten Vergangenheit deren modisch-archivalische Wiederkehr tritt und, wenn ich richtig sehe, gerade die Opferkult-Faszination, die den Kitt für die psychische Entsprechung des NS: das Zugleich von Inbrunst und Zynismus, geliefert hat, an Boden und vielleicht auch Blut gewinnt - möge dieses Buch seine Wirkung noch vor sich haben."
 

- Museumsgesellschaft. Ein Interview von Beat Weisberg mit Klaus Heinrich, in: Notizbuch 3. Kunst, Gesellschaft, Museum, hrsg. v. Horst Kurnitzky, Berlin 1980,  S. 7-11. Auf die Frage nach dem Begriff der "Museumsgesellschaft" antwortet er: "... kein Komplex der Vorgeschichte oder der Geschichte (Thraker, Wittelsbacher, Preußen, Bauhaus und Menschenbild, die 20er und die 30er Jahre, von den noch bevorstehenden 80ern ganz zu schweigen), der ohne museale Aufbereitung bleibt. Fragen Sie nach dem Motiv? Sie werden nicht lange suchen müssen. Dort wird es Ihnen vorgeführt: ordentlich vorgeführt. Sie überschauen und verleiben es sich an in Form von kiloschweren grundbuchartigen Katalogen - und brauchen niemals wieder daran zu denken. Eine Form der Erinnerung, die gegen 'Durcharbeiten' feit, um noch einmal Freud zu bemühen. Museale Bewältigung der Vergangenheit, der nicht bewältigten. Das ging mit dem Trödel los. Erst wollten Sie Stücke der nahen Vorzeit erlösen, ihnen eine Alternative bieten, durchaus nicht nur sich - jetzt können Sie schon mit den schrecklichsten Zeiten auf Du verkehren. Soeben haben Sie sie für sich erobert und eingemeindet. Sie sagen: nun, eine Zwischensphäre. Aber das färbt ab. Jeder der gesichtslosen, mit Macht zerrütteten Städte ihre Plastik-Altstadt: das alte Düsseldorf, das alte Berlin. Und wenn dies zufällig nicht im Stadtareal anzutreffen ist (wie bei uns), wird es eben hergestellt. Erst die Vergangenheitsbewältigung am untauglichen Objekt, dieses nachträgliche verfehlte Reinigungsunternehmen nach dem Zweiten Krieg: die Fassaden abschlagen, widerstandsfähiger Rauhputz auf die schlichte Außenhaut; und dann die synthetische Altstadt bis in den letzten Vorstadtwinkel hinein: die Farben der Vergangenheit aufgetragen, die Fragen nach der Vergangenheit abgeschnitten."

- Theorie des Lachens, in: "Nervöse Auffangsorgane des inneren und äußeren Lebens". Karikaturen, hrsg. v. Klaus Herding und Gunter Otto, Gießen 1980, S. 12-30

- Mythologie und Widerstand. Protokoll eines Doktorandenkolloquiums von Klaus Heinrich am Religionswissenschaftlichen Institut der Freien Universität Berlin zu Dalla Nube alla Resistenza. Von der Wolke zum Widerstand von Danièle Huillet und Jean-Marie Straub nach Dialoghi con Leucò und La luna e i falò von Cesare Pavese (Italien, BRD, England 1978, 35mm, Farbe, 103 Min.), in: Filmkritik, 24. Jg., 12. Heft (Dezember) 1980, S. 529-545

- Mir herrscht kein Weib im Leben! Auszüge aus einer Vorlesung (Heros-Vorlesung, Ende 1975) von Klaus Heinrich und eine Gallerie von phallischen Müttern, in: Sophokles/Hölderlin. Antigone. 4 Gespräche über den Staat, die Gewalt und das Gesetz. Schauspiel Frankfurt 66. Programmheft, o. J., S. 90-101. Zuerst in: Horst Kurnitzky: Ödipus. Ein Held der westlichen Welt. Über die zerstörerischen Grundlagen unserer Zivilisation, Berlin 1978, S. 92-94:


Es sieht so aus, daß die Kastrationsangst, die Angst davor, kastriert zu werden, auch wenn uns in der Psychoanalyse immer wieder der Vater als Kastrator vorgestellt wird, offenbar doch einer weiblichen Figur gilt, daß das Kastrationsinstrument nicht so sehr der männliche Penis, der da als Dolch gebraucht würde, oder seine Armverlängerung oder was immer ist, sondern die Vagina, die mit Zähnen besetzt ist, die darum 'dentata' genannt wird, in der, sagen wir: mythologischen Kunstsprache. Zunächst ist es mit Händen zu greifen, um das mythologische Argument gleich zu nehmen, in den ältesten Geschichten der Mythologie, die, als solche vorgeführt etwa bei Hesiod, in den Göttergenerationen deren Abfolge begründet. Da heißt es mit einer sehr großen Deutlichkeit, daß die Sichel, die scharfe, metallene, im Schoße der Gaia, der Erde gebildet wurde. Wenn sie das hören, dann ist eigentlich der Agent, deren sich die Erde bedient, um dem Uranos das Zeugungsglied abzuschneiden, nämlich Chronos, gar nicht nötig. Das kann sie selber tun. Diese ihre Kastrationsmacht wird offenbar - so auf den ersten Blick - Männern übertragen. Auf den zweiten Blick haben wir hier schon die Vermutung, die uns bei dem Ganzen leitet, daß nämlich die Angst vor der Rache der real unterdrückten Frauen diese als zu einer derartigen Unterdrückung berechtigend, veranlassend, stilisieren läßt. Sie sind es, die als diese Wesen zu fürchten sind, also das Produkt selber wird, wenn man das Produzent nennen darf, was kastriert, umgebogen in den Produzenten. Das zweite Kult haben sie im Isiskult selber, wo in orgiastischen Tänzen, die einen Orgasmus nachahmen, der Akt der Beschneidung als Selbstentmannung erfolgt. Die Weise, wie Lukian die verschiedenen Erklärungsgeschichten hier bringt, zeigt, daß er sehr wohl auch eine Ahnung davon hat, daß offensichtlich Angst vor Rache verständlich ist nach dem, was man selber getan hat: die entfernte Göttin, die real unterworfenen Frauen, die jetzt sozusagen als Stellvertretertäter sich zu Rachopfern erklärenden Priester. Die Erklärungen, daß hier bloß nachgeahmt werde, daß man also versuche isisartig zu sein in den Kleidern, oder daß man gar versuche, beide Geschlechter zu vereinigen, sind von vornherein als Rationalisierungen abzulehnen, denn wo wirklich beide Geschlechter, also Doppelgeschlechtlichkeit, ausgedrückt werden sollen,, da werden die Attribute gehäuft und nicht noch zum Teil abgeschnitten.
Das nächste Beispiel ist eines, was die Ikonographie langer, langer Zeiten uns liefert. Die Schlangen, die von Schlangentötern - also sei es den Heroen, die darauf spezialisiert sind, oder den Heiligen, die später an ihre Stelle treten, wie der Heilige Georg - erlegt werden, können einem eigentlich, wenn man die Größenordnungen vergleicht, nicht Angst und Schrecken machen. Es gibt zwar Ausnahmen, wie die Meerungeheuer, aber auch dieses Meerungeheuer kann zu einem kleinen geringelten Schlangenschwanz werden, so wie in fast allen Darstellungen der Jonasgeschichte. Meistens sind es winzige, kleine Schlänglein, die von dem Herren auf dem hohen Roß, wie dem Georg z.B., erstochen werden, und bedrohlich werden könnten sie nicht dem Mann, sondern nur seiner Stellvertretung, seinem Penis.
Das psychoanalytische Argument schließlich leuchtet, glaube ich, so unmittelbar ein, daß ich es nicht groß zu kommentieren brauche. So oft wird in den Freudschen Texten von dem kleinen Mädchen gesagt: 'dies, was ihm fehle, zeige, es ist kastriert', daß sich der Schluß nahelegt, daß es wohl nicht kastriert ist, sondern kastriert hat, wenn das so oft mit männlichem Zeigefinger vorgetragen wird, und daß derjenige, der als Kastrator auftritt, wohl hier selber gefürchtet wird als der Kastrierte, dessen man ansichtig werden könnte, so wie in der Geschichte mit den Gallen. Ich will keine Gegenmythologie zu der ohnehin schon reichlich vorhandenen Mythologie machen, aber ich will doch einmal darauf hinweisen, daß, so wie bei Freud sich in die Darstellung des bezeichnenderweise neutrius generis benannten Es, des so neutral erscheinenden, alles bedeutenden, alles verschlingenden, keine richtigen Differenzen kennenden Unbewußten, sich die ambivalente Haltung gegenüber der Weiblichkeit verlagert - und dann gesagt wird: damit hat es aber nichts zu tun -, so muß nun noch einmal die Angst kompensiert werden, die Angst vor der Rache der Unterdrückten - eine durchaus historische Angst, nicht eine physiologisch-mystische Angst - in der Weise kompensiert werden, daß mit dem zweiten Satz gesagt werden kann: sie sind ja diejenigen, die sich ängstigen, daß sie kastriert sein könnten, und damit erkennten sie die mächtige Rolle des Vaters als Kastrator an."

- Elephantengedichte, in: Almanach 1981 des Verlages Stroemfeld/Roter Stern, wieder abgedruckt in: 15 Jahre. Almanach aufs Jahr 1986. Briefe, Entwürfe, Berichte, Bibliographie, hrsg. v. KD Wolff, Frankfurt/Main 1985, S. 110-112:

1

Nach entsetzlichen Märschen
die Berge auf die reißenden Flüsse nieder
hängend über den Schluchten
von Dornen gebissen
und fremden Schlangen
hier an dem flachen Ufer des Binnensees
kamen die Elephanten zum Stehen

Später von den kopflosen Männern
wurden sie in den Sumpf gedrängt
stießen sie die berühmten Schreie aus
eine Nacht und länger

Wenn die Bauern den Acker pflügen
werfen sie Knochen hinter sich wie andere Steine
Arm- und Beinschienen halten den Pflug zusammen
Silbernägel zieren das Joch ihrer Ochsen
Häufiger als in anderen Gegenden
finden sich die geschnitzten Göttinnen
besonders die eine
die mit den vielen Brüsten
aus Elfenbein

- Die Grabplatten des Udo Klückmann, in: Udo Klückmann: Nachstellungen. Mit Texten von Klaus Heinrich, Helmut Heißenbüttel, Heinar Kipphardt, Alexander Kluge, Werner Kofler und Horst Kurnitzky, hrsg. v. Horst Kurnitzky, Berlin 1981, S.17-20: "Grabplatten haben das an sich: vor die Nische geschoben oder über die Grube gewälzt, halten sie fest: kein Heraus-, kein Heraufkommen. Die Reliefs auf ihnen: so soll es gewesen sein. Der Zweifel, der doch auch in uns von unten käme, wird nicht zugelassen. Die Platte behält recht."

- La fiamma di costanti affetti. Notizen über die italienische Oper, in: Notizbuch 5/6. Musik, hrsg. v. Reinhard Kapp, Berlin, Wien 1982, S. 93-99: "Wo die Oper ihre Widerstehensqualität verliert, sich z.B. auf den Gattungsmarsch der eben dadurch klassisch-fortschrittlichen Symphonie mit ihren hohlen Erfüllungszuständen, ihren beängstigenden Rammschlägen am Ende, oder aber zurück in den Widerstand nicht duldenden, Untergang verklärenden, die Geschlechterspannung rauschhaft eliminierenden unterweltlichen Schoß begibt, verrät sie das Recht der empirischen, unser nämlich als Triebsubjekte. Diese freilich sind so wenig einig wie allein: die Macht, von der sie, jedes für sich, in der Durchsetzung ihrer Interessen zehren, läßt sie zugleich in ein gemeinsames Bündnis treten - mit dem Triebgrund der Wirklichkeit. Dieser, den das monotheistische Geistrauschen der großen Symphonien ebenso beschwört wie der dröhnende Herzdoppelschlag des intrauterinen Beat, Große-Mutter-Musik in den Große-Mutter-Höhlen unserer Städte, hatte in der italienischen Oper seine unverwechselbare Epiphanie. Nirgends wird das deutlicher als in dem Schindangerduett im zweiten Akt des Ballo in Maschera, dort im Umschlag nach dem wechselnden Gesang, in dem die Zeit stillstellenden Innehalten, dessen Subjekt nicht länger nur die Singenden sind. Was ist das Besondere dieser Epiphanie? Daß die Macht, die die Singenden in Zerstörung treibt, nicht nur identisch ist mit der, die sie vereinigt, sondern daß sie alles, was ihr widerstrebt, zu Repräsentanten der Vereinigung macht. In Spannung auseinandertretend, aber nicht zerrissen, sondern die Spannung haltend und so sie balancierend, auch in sich mit sich - dies ist die Utopie. Sie ist es sowohl für den, der zu Zerreißung nur das Gegenbild des Verschlungenwerdens kennt, wie für den, der spannungslose Indifferenz als den Ausweg aus der ihm eingerammten Identität sucht und (vorgeblich) findet. Ob die Hysterie des Variierens, die jedem Ton nicht nur sein Recht, sondern den ganzen, nun freilich bündnislos punktierenden Affekt zukommen läßt, schon eine Lösung war, muß offenbleiben. Nicht Geschlechterspannung jedenfalls markiert einen solchen, durchaus in Wagnernachfolge angesiedelten Lösungsversuch: sie war nur der Transporteur, sich ihrer selbst zu entledigen, vom Tristan an."

- Mythos. Klaus Heinrich im Gespräch mit Wolf Dieter Bach, in: Goethe. Ein Denkmal wird lebendig. Dialoge, hrsg. v. Harald Eggebrecht, München 1982, S. 61-79: "Hier nun, in der Philemon-und-Baucis-Geschichte, wird zwar auch keine Antwort gegeben auf die Frage, wie man aus dem Lebensprogramm des 'artista', für den der lebendige Stein sein Werk ist, an dem er baut, einen Übergang finden könnte in das gesellschaftliche Naturverhältnis. Denn das reicht ja nicht aus, daß Goethes - ein in seinen Vorstellungen aufgeklärter - Fürst zugleich als 'dämonische' Natur den zurückflutenden Soldaten in aller Ordnung einen großen Linseneintopf, ein Linsengericht, kochen läßt und damit Überlegenheit bekundet, während auf der anderen Seite der König von Preußen und der Herzog von Braunschweig nur bis in einige Entfernung heranreiten und dann scheel gucken und dann wieder verschwinden. Das reicht ja nun gewiß nicht aus. Aber es wird eine Warnung ausgesprochen, die nicht nur negativ ist, die besonders deutlich wird, wenn man den Schluß des Faust liest. Sein 'unendlich strebend sich Bemühen' war jeweils Sich-ganz-und-gar-in-den-Augenblick-Versenken. Das Festhaltenwollen, das 'Verweile doch...', oder in der Boitoschen Fassung 'Arrestati', das tritt erst in dem Augenblick auf als Realproblem, wo er nun tatsächlich nichts mehr mit dem Augenblick zu tun hat, sondern dieses Zukunftsmeliorisationswerk unternimmt: 'Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn ...' usw.
Diese schreckliche Geschichte, nach 1945 so oft zitiert, ist schrecklich darum, weil das, was Faust für das Graben und Schaufeln und Arbeiten an dem neuen Land hält, in Wirklichkeit das Geräusch der Spaten der Lemuren ist, die ihm die Grube graben; also eine aktuelle Täuschung. Und derjenige, der hier festhalten will, will genau das festhalten, was des Festhaltens nicht wert ist, weil es industriellen Fortschritt als Selbstkolonisierung, Selbstkolonialisierung bedeutet - immer im Verstande Goethes jetzt -, und demgegenüber ist das, was Goethe vorschlägt, auch wenn er es nur für sich und als Individuum vorschlägt, eine Wissenschaft, die die Naturverhältnisse auf ihre Bündnisfähigkeit untersucht. Wir können heute sagen, daß ein gesellschaftliches Naturverhältnis, das gegen die Natur anderes setzen will als die Natur selber, was die Zivilisation als das ganz andere der Natur ausgibt, mit Sicherheit nichts auszurichten vermag. Also wie ist statt des selbstkolonisierenden Fortschritts, der die äußere Natur bekämpft, indem er die innere mit zu beseitigen unternimmt, der nicht beachtet, daß die Triebmacht außen und die Triebmacht innen ein und dieselbe sind - wie ist demgegenüber ein gesellschaftliches Naturverhältnis zu entwickeln?"

- Vernunft und Mythos. Ausgewählte Texte, Frankfurt/Main 1983. Auch bei Stroemfeld/Roter Stern, Frankfurt/Main 1992. Einige Wiederabdrucke, u.a. auch Sprung ins Zentrum / Hausverlassen / Revolutionärer Quietismus. Zu aktuellen Formen der Faszination 'östlicher' Meditation und Askese.

- Gemütlichkeit, in: Deutsche Stichworte. Anmerkungen und Essays, hrsg. v. Horst Kurnitzky und Marion Schmid, Frankfurt/Main 1984, S. 47-53. Darin ebenso die Stichworte Motzen (S. 83 f.) und Umwelt (S.129-131)

- Iokaste oder die Wiederkehr des Verdrängten (12 Thesen. Grundlage des zweiten Teiles eines Vortrags im Rahmen einer Tagung mit dem Thema 'Geschichte als Wahrheitsnorm? Wider die hermeneutische Naivität', gehalten an der Evangelischen Akademie Hofgeismar im Frühjahr 1983), in: Gegenwart des Absoluten / Philosophisch-theologische Diskurse zur Christologie, hrsg. v. Klaus-Michael Kodalle, Gütersloh 1984, S. 126 ff.

- Das Floß der Medusa, in: Faszination des Mythos. Studien zu antiken und modernen Interpretationen, hrsg. v. Renate Schlesier, Basel und Frankfurt/Main 1985, S. 335-398. Dieser Vortrag erschien später auch in Floß der Medusa. 3 Studien zur Faszinationsgeschichte mit mehreren Beilagen und einem Anhang, Basel und Frankfurt/Main 1995.

- Medusa (1979), in: Faszination des Mythos. Studien zu antiken und modernen Interpretationen, hrsg. v. Renate Schlesier, Basel und Frankfurt/Main 1985, S. 370:

MEDUSA

I
Wer Medusa sei? Perseus geriet ins Schwärmen. Eine ganz entzückende Person sei das gewesen. Freilich am Schluß habe er sie erlegen müssen. Aber das Köpfchen habe er mitgebracht und es ziere seitdem artig in Gold gefaßt den Schild der Athene.

II
Noch einmal Medusa. Das ganz kleine Erzittern des Haaransatzes der Schlummernden. Das Wort Perseus das sie in Trance versetzt.

III
Übrigens wir haben dich nicht vergessen. Morgen ist Medusatag. Da backen die Bäcker Plätzchen mit deinem Namen. Zärtlich zergeht der Hauer im Mund.

IV
Medusa? Medusa ist tot. Ihr Pferdesöhnchen? Galoppiert über den Helikon. Und Perseus? Schwärmt von Medusa. Wie sie den Kopf verlor? Wie sie den Kopf verlor.

V
Ein letztes Mal Medusa. Trocken vor Erregung umarmte sie mich. Ihre Schlangen zischelten dabei. Da wußte ich was mir bleiben wird wenn ich mich von der Klippe stürzen werde ins Meer.

- Der Untergang von Religion in Kunst und Wissenschaft, in: Der Untergang von Religionen, hrsg. v. Hartmut Zinser, Berlin 1986, S. 263-294: "Untergangs-Stimmung, Endzeit-Erwartung, Gattungskatastrophen-Visionen heute drängen auf Einordnung und nähere Bestimmung der in ihnen nur unzureichend gebundenen Angst, das Studium älterer Untergänge lehrt die eigenen Untergangs-Inszenierungen besser verstehen, Differenzierungen in diesem Stoff helfen vielleicht auch gegen die Vereinnahmung der Untergangsart als initiatorischer Angst (so wie Eliade das tat [Mircea Eliade, Religiöse Symbolik und Aufwertung der Angst, in: Mythen, Träume und Mysterien, Salzburg 1961, S. 65-87], oder wie auch unsere neuen Gläubigen es tun - Katastrophenangst und auch die ihr zugeordnete Lust in dieser Hinsicht ein ganz natürlicher, weil Initiation, hier eine in gattungsgeschichtlichem Ausmaß gedachte, ebenso indizierender wie beglaubigender Vorgang). ...
Künste und Wissenschaften stellen die Gattungsfrage, die zu stellen ein Privileg der Religionen war; nur soweit sie dies tun, sind sie heute ernstzunehmen. Gleich doppelt erscheint das Thema vom Untergang der Religionen unter diesem Gesichtspunkt: wie sind sie untergegangen, das heißt aufgegangen, in den Wissenschaften und Künsten? und: wie erfassen diese ihrerseits Untergang? Hierzu möchte ich, stichwortartig und vertrauend auf die analytische Kraft von Bildern - ihre Fähigkeit, Ungleichzeitiges und Ungleichortiges zu simultaneisieren -, ein paar Bilder begleitende Worte sagen. ... 

- Erinnerungen an die Fliegen, in: Das Theater des deutschen Regisseurs Jürgen Fehling. Jürgen Fehling zum 100. Geburtstag, 1. März 1985, hrsg. im Auftrag des Jürgen Fehling Archivs Joana Maria Gorvin von Gerhard Ahrens. Mitarbeit Carsten Ahrens, Berlin 1985, S. 204-213

- Der Untergang von Religion in Kunst und Wissenschaft, in: Der Untergang von Religionen, hrsg. v. Hartmut Zinser, Berlin 1986, S. 263 ff.

- Götter und Halbgötter der Renaissance. Eine Betrachtung am Beispiel der Galatea, in: Die Restauration der Götter. Antike Religion und Neo-Paganismus, hrsg. v. Richard Faber und Renate Schlesier, Würzburg 1986, S.153-182: "Knapp 3 meter hoch, 2 1/4 meter breit, bedeckt es, in Türhöhe beginnend, ein Wandfeld der heute in einen Saal verwandelten, ehemals offenen, nach ihm benannten Loggia in dem anmutigen Gartenpalast des Bankiers Chigi, Rafaels Freund und Gönner, am Tiberufer. In dieser Loggia hat Raffael nur dieses Feld bemalt. ... Die Decke der Loggia ist - von Baldessare Peruzzi, dem Erbauer des Palastes - mit einer mythologisierenden Sternbildszenerie geschmückt, die das Horoskop des Bauherrn - Agostino Chigi - präsentiert. Dort ist sein Schicksal vorherbestimmt. Jedoch, diese Vorherbestimmung ist nurmehr ein Rahmen, und der Blick des Besuchers gilt nicht der Decke, sondern dem Bild." 

 

- Klaus Heinrich im Gespräch mit Florian Rötzer, in: Denken, das an der Zeit ist, hrsg. v. Florian Rötzer, Frankfurt/Main 1987, 129-146

- Zur Geistlosigkeit der Universität heute. Oldenburger Universitätsreden, Nr. 8, hrsg. v. Friedrich W. Busch und Hermann Havekost, Oldenburg 1987. [Siehe dazu auch neuere Beiträge u.a. von Christina Thürmer-Rohr und Frank Winter.]

- Sog. Zur aktuellen Mythenfaszination. Interview mit Klaus Heinrich von Horst Kurnitzky, in: Niemandsland. Zeitschrift zwischen den Kulturen, hrsg. v. Wolfgang Dreßen, Eckhart Gillen und Siegfried Radlach im Paul-Löbe-Institut Berlin, Berlin 1987, S. 84-93

- Siegfried, Heros der Unterwelt. Klaus Heinrich und Heiner Müller im Gespräch mit Wolfgang Storch, in: Die Nibelungen. Bilder von Liebe, Verrat und Untergang, hrsg. v. Wolfgang Storch, München 1987, S. 29-31 sowie Katastrophenfaszination und Totengräberdienst. Klaus Heinrich und Heiner Müller im Gespräch mit Wolfgang Storch, ebd., S. 113-116

- Joseph Beuys. (Auszug aus dem Schluß der Gedenk-Vorlesung am 27.1.1986), in: Berliner Kunstblatt, 17. Jg., Nr. 57/1988, S. 12-16: 

  Joseph Beuys: Zeige deine Wunde, 1974/75, Städtische Galerie im Lenbachhaus, München

"Ein kastenartiger weißer Raum, mit zwei Schiebebahren, wie man diese in Krankenhäusern für den Transport der Toten verwendet; zusätzlich stehen Instrumente an der Wand und hängen Tafeln an dieser. Das Ganze hat den Fußbodenbelag, den private mit öffentlichen teilen, also einen Teppichboden unter sich. Mehr ist dort nicht zu sehen. Das Merkwürdige ist, es stellt sich ein Schock ein: die Leere des Raumes wirkt bedrückend durch die an den Wänden verteilten, diesen akzentuierenden Gegenständen - nicht deren Arrangement selbst. Diese Anordnung der Gegenstände wirkt in der Leere mit einem Male anmutig, was das einzige dafür passende Wort ist. Die schrecklichen Gerätschaften produzieren - so wie Beuys diese aufgebaut hat - eine erschreckende Leere, einen erschreckend leeren Raum; indem sie dies tun, werden sie zum anmutvollen Arrangement. Das ist in verschiedene Richtungen interpretierbar: als Rückfall in Dekorationskunst - dagegen spricht das Bedrückende dieses leeren Raumes; als utopisch - dagegen spricht ihre Augenblicks-Konstellation, die jederzeit rückgängig gemacht werden könnte; sie stehen nicht als die große, sorgfältig kalkulierte Ordnung, sie wirken, als ob sie nur so hingestellt seien. Aber plötzlich erhalten sie eine andere Wirkung, plötzlich dreht sich etwas in der Weise um, wie aus der Zeit der Vernichtungslager ein jüdischer Witz berichtet. Ein aussortierter, für die Vernichtung bestimmter Häftling soll zwei Lagerverwaltern antworten, welchen von diesen er für den menschlicheren halte. Der Häftling zeigt auf den einen, dieser fragt geschmeichelt: 'Wieso?' Der Häftling antwortet darauf: 'Ihr Glasauge blickt mich so menschlich an.' Diese schreckliche Geschichte wird plötzlich im Lenbachhaus real, ist in groß vorgestellt. Die anonymen Todestransport-Werkzeuge werden zu etwas, das noch eine Verwandlungs-Möglichkeit hat gegenüber dem eigentlich tödlich leeren Raum, der dort plastisches Ereignis geworden ist. Das ist natürlich etwas anderes als sonst Hohlformen werden, das Gegenteil: der Raum bekommt ein immenses plastisches und skulpturales Gewicht, er scheint alles zu erdrücken und kann doch die paar Werkzeuge nicht wegdrücken. Das ist bei Beuys nicht nur ein spiritueller, sondern auch ein handwerklicher Vorgang, damit eine solche Umkehrung der Realverhältnisse eintritt - ohne diese Umkehrung ist dieses Arrangement nicht beschreibbar."

- marsyas, für h. m.

auf der abgezogenen Haut des b.
erscheinen die Züge des m. die wohlvertrauten
jeder unserer größeren Scheine zeigt sie
jeder unserer größeren Scheine fragen
wir indem wir die Scheine falten
zu bequemerer Übergabe
eine abgezogene Haut?

des Artisten Wiederkehr
schreckte die Bankräuber eben noch hatten
sie die eigene Haut
furchtsam zu Grabe getragen da
stießen sie auf den Achtzigjährigen
che concorrenza
unter Berninis Sonne!

nichts erworben
außer dem Haus einer Schnecke?
nichts verstoßen
außer den Gluckertönen?
nichts getroffen
außer dem Quak der Frösche?
nur zu du eselsohrige
hörnchentragende
Schmatzelippe!
morgen ist Schindetag

auf dem Gerüste
wuchsen die Falten mir
wie klein das Körperchen wie ungeheuer
gedehnt die Haut sie
bietet Platz für alle außer
dem Unhold da auf der letzten Matte
dem Schnabeltier mit der Brut im Maule
dem Skalp des b.

k.h.

in: Explosion of a Memory Heiner Müller DDR. Ein Arbeitsbuch, hrsg. v. Wolfgang Storch, Berlin 1988, S. 18

- Das Tiergartenviertel vom Dach des Weinhauses Huth und von sonstwoher betrachtet. Interviewcollage von Claudio Lange, in: Vom Alten Westen zum Kulturforum. Das Tiergartenviertel in Berlin - Wandlungen einer Stadtlandschaft, hrsg. v. Olav Münzberg, Berlin 1988, S. 231 f.

- Berlin aus dem Fenster. Ein Interview mit Klaus Heinrich, in: Bauwelt. 48, 79. Jg., 23.12.1988, Stadtbauwelt 100. Vierteljahreshefte der Bauwelt mit Beiträgen zur Neuordnung von Stadt und Land, S. 2140-2145: "Was in unserer Zivilisationsgeschichte Städte ausmacht, ist noch nicht das, was wir in den neolithischen Siedlungen in Inneranatolien oder in Jericho etwa vorfinden: nämlich ein verteidigtes, gegen die Außenwelt gesetztes Konglomerat, in das man hineinkriechen kann, so daß man sich in einem geschützten Innenraum befindet, den man nach außen verteidigen muß. Das ist ein Vorläufer, aber das, was zur Stadtutopie gehört, hat sich in diesem Vorläufer noch nicht ereignet; das ist erst in dem Augenblick greifbar, wo die - ich sag's jetzt man mit dem angreifbaren Wort - Verinnerlichung, die eine Stadt bedeutet, in eine Gegenbewegung sich entlädt: daß nämlich das nach innen Hereingeholte innen wieder veräußerlicht wird, daß es innen zur Schau gestellt wird, vorgeführt wird; daß die Stadt dadurch repräsentativ ist für die Ordnung der ganzen Welt, daß sie alles das, was sie nicht ist, dennoch in sich hereinholt und in sich präsentiert. Das geht los mit der in sie hereingeholten Natur: in ihr wird das Wasser vorgeführt als künstlich gefaßte Quellen in ihren Brunnenanlagen; in ihr erscheint das Gebirge wie in Rom in den Häuserschluchten; der Verkehr selber wird zu einem Strom, der durch sie hindurchgeleitet wird; die Landschaft, die sie frißt oder die sie veröden läßt, ersteht in ihr in Gärten und Parks schöner auf. Etwas für Berlin Spezifisches ist zum Beispiel, daß die vielen Dörfer, das viele Land, das sie gefressen hat, sehr viel schöner wieder in der Stadt auferstanden sind in den paradiesischen Parks und Gärten; und auch ein Bezirk der Parkvillen etwa, der parkartigen Villengärten, ist dadurch, daß er von allen Seiten einsehbar ist und unter Umständen eines Tages auch betretbar wäre, so wie die Schlösser mit ihren Parks heute in der Stadt betretbar sind, etwas ganz anderes als die Villen draußen oder das sich abschließende Gehöft. Also die Natur wird in die Stadt hereingebeten, und dieses in einem unerhörten Maße der Steigerung, die äußerste Steigerung ist, wenn gebrochen wird die Grenze zwischen Tag und Nacht, dieser vorgeschriebene Wandel in der Natur: indem die Nacht in Tag verwandelt wird, Lichter, die das Firmament übertreffen, in der Stadt erstrahlen und die Stadt sozusagen zum Ort nicht aussetzender Geistesgegenwart, nicht aussetzender Aufklärung wird, unabhängig von dem, was heute mit den Reklamen an Nichtaufklärung angepriesen werden mag. Wichtig, entscheidend aber, daß nicht nur die Natur in sie hereingeholt wird, sonder auch die Geschichte - die Geschichte der Zivilisation insgesamt.

G. B. Piranesi 'Veduta della Piazza del Popolo" ,Vedute di Roma (um 1750)

Es sind die Bauten der Metropolen, seit den Stichen Piranesis, die Rom transportierbar machen in alle Hauptstädte der Welt, und auch Schinkel versucht, aus dem Panoramen Berlins so etwas wie ein neues Zivilisationszentrum à la Rom zu machen. Also, seit von den Piranesischen Stichen aus die Substruktionen  hereingeholt werden, kein öffentliches Gebäude, das nicht auch etwas von diesen Substruktionen mit vorstellt; und wenn wir die Nachkriegsgeschichte Berlins, jetzt meine ich die nach dem Zweiten Krieg, betrachten, dann ist die Scharounsche Philharmonie, im Gegensatz übrigens zu Scharouns Anfängen und seinem ganzen Werk bis dahin, darum ein wichtiges städtisches Gebäude, weil es ein sozusagen archäologisierendes Gebäude ist: weil es mit stark Piranesieskem Einschlag, wenn sie es durchwandeln, innen noch einmal Spannungen, eine Zivilisationsarchitektur durch viel Stadien hindurch, erscheinen läßt - also das, was die Ruinenstadt Berlin einmal durch ihre Zertrümmerung zeigte, nun in einem gebauten, in einem perfekten Gebäude noch einmal zeigt. Geschichte also wird ebenfalls hereingeholt und zur Schau gestellt, deswegen kann man Geschichte verarbeiten in einer Stadt, und das gehört nun zu unserer Utopie der Stadt dazu, daß dieses in einem unerhörten und nicht abreißenden Maße geschieht: die Veränderungen des Bewußtseins mit der Geschwindigkeit des Verkehrs und damit des Geistes in der Stadt, die Propheten nicht mehr nur in der Wüste auftretend und vor den Mauern der Stadt klagend, sondern nun in den beweglichen Wüsten der Städte selber erscheinend, also die Stadt der ort der permanenten Kulturrevolution, deren Reichweite häufig täuscht, weil die Realbedingungen der Veränderungen der Produktion und des Verhältnisses zwischen Produktion und Zirkulation nicht mit diesem vorausschießenden Bewußtsein den gleichen Schritt halten. ...
Stadtgeschichte ist eine Geschichte der Brüche, und zwar der nicht ausgestandenen Brüche. Das, was in diesen Unternehmungen und sehr vielen anderen auch gemacht wird, ist ja, so zu tun, als habe alles durch sein Überlebthaben den Rang bekommen, jetzt Stadt zu repräsentieren, geschichtsmächtig zu sein. Geschichtsmächtigkeit ist etwas ganz anders, ist das Sich-behaupten-können in Brüchen und nicht das Überlebthaben.
Dann die Erinnerung: die Erinnerung ist die einzige Instanz, Geschichte Geschichte werden zu lassen. Die Erinnerung speist sich nicht aus dem Festhalten an dem, was gewesen ist, sondern aus der unangenehmen und häufig in große Konflikte stürzenden Nötigung, daß man keinen Schritt nach vorn machen kann, wenn man nicht eine Reihe von Stricken lockert, andere anders nachzieht, wenn man nicht das, was was hinter einem immer noch arbeitet, auch dazu bewegt, mitzumachen diesen einen Schritt nach vorn. Also, Erinnerung ist so etwas wie Nötigung aus einer Zukunft heraus, die es noch nicht gibt; deswegen müssen ununterbrochen die Vorstellungen der Vergangenheit umgedacht, umgeschrieben werden, sonst könnte nichts von ihnen jemals einen gegenwärtigen Nutzen haben. Das ist nicht Opportunismus, sondern das ist eine sehr sehr lästige und sehr unheimliche  und nur bisweilen dann auf paradiesische Aufatem-Bilder führende Form der Auseinandersetzung mit der Zukunft.
Sehr vieles von dem, was uns heute als Erinnerungszeichen angeboten wird in Städten,
tilgt Erinnerung. Also, originalgetreue Fassaden irgendwo vorgeblendet, unter Umständen Palais, Stadthäuser versetzt hier um 100 Meter, dort um 500 Meter, nachgebaute Zeitbilder, Zeitvorstellungen - das, was der erinnerten Vergangenheit widerfahren können muß, nämlich daß sie immer wieder sich verwandelt, das ist hier nicht mehr möglich; hier wird Ihnen gesagt, was Sie zu sehen haben, und das wird an den Ort gestellt, am Sie es am einfachsten erreichen können. Vielleicht wird eines Tages das abgerissene Berliner Stadtschloß am Rande von Friedrichsfelde oder Friedrichshagen oder sonstwo wieder aufgebaut, die Bauakademie vielleicht in einem Schinkelbereich wieder aufgebaut. Wenn ich das jetzt so formuliere, ist das nicht gegen die DDR-Seite der Stadt formuliert, das gilt für uns genauso; vielleicht werden die Häuschen, die man im Schloßpark abgerissen hat, und das verschandelte Schloß Bellevue an anderer Stelle eines Tages wieder aufgebaut werden. ...
Nicht zu verkennen ist natürlich: in der Vorstellung, alles ist Geschichte (...) - auch in dieser Vorstellung steckt natürlich ein Stück verzerrter utopischer Erwartung drin, die zur großen Stadt gehört und die man egen ihre Verzerrungen wie kaum irgend etwas sonst schützen muß. Das ist, daß sie eigentlich die große Gleichgültigkeit, die große Gelassenheit, die alles läßt, wie es ist, als großstädtische Qualität besitzt. Ich glaube, ich muß das etwas näher ausführen. Wenn ich in den Jahren nach dem Krieg, als Berlin noch ein Trümmermeer war, durch eine der größeren öden Straßen Roms, also die Via Nazionale etwas, bei schlechtem Wetter, Regenwetter ging, zwischen gleichgültigen Häusern und gleichgültigen Passanten, dann fühlte ich mich heimatlich berührt und assoziierte die Heimatgefühle im Berlin der Vorkriegszeit; etwa bei solchem Wetter durch die Leipziger Straße gehen oder um die Ecke an der Friedrichstraßenpassage biegen oder wo immer sonst, weiter im Norden am Prenzlauer Berg beispielshalber. as heißt, diese große Gleichgültigkeit - so hat es schon Camus von seinem Oran geschildert - als etwas, was die Stadt mütterlich erscheinen läßt: alle sind in ihr eingelassen, alle sind in ihr aufgenommen, alle haben als ihre Kinder gleiches Recht. Das war damals die Camus'sche Argumentation, im 'Fremden' haben Sie noch etwas davon, in den Tagebüchern stellt er ununterbrochen die Beziehung zwischen der Gleichgültigkeit der Stadt Oran und der Gleichgültigkeit seiner Mutter als eine doppelte Liebesbeziehung her. Diese Gleichgültigkeit, die alles gewähren läßt, allem die gleiche Chance gibt, ist ja nur ein anderer Ausdruck dafür, daß man in einer solchen Stadt - und das meine ich jetzt mit Stadtutopie -, von wo immer herkommend, aus allen Unterwerfungsbanden gelöst und mit einer höchst riskanten Freiheit ausgestattet, den Weg riskieren kann.

- Ein Gespräch mit Harun Farocki über seinen Film Bilder der Welt und Inschrift des Krieges im Doktorandencolloquium am 9. Mai 1988. Vom Tonband transkribiert von Gabriele Reuleaux, in: Zelluloid, Nr. 28, 1989, S. 69 ff.

- Klaus Heinrich in einem Gespräch mit Reinhold Messner, in: Die Kriege der Medien. Katastrophenfaszination, Ereignisgier, Massenrausch, in: Lettre 15, 1991, S. 20-25. Nach einem Radio-Essay für vier Sprecher und O-Ton von Horst Kurnitzky. Gesendet vom SFB am 10.10.1991:
Reinhold Messner
: "Um Kälte zu erfahren, muss ich dorthin gehen, wo die Kälte ist; um die Höhe zu erfahren - die sauerstoffarme Luft -, muss ich dahin gehen, wo die sauerstoffarme Luft ist; um die Weite, die Unendlichkeit zu erfahren, muss ich dort hingehen, wo es nicht die Möglichkeit gibt, jede fünf Minuten wieder zurückzukehren ...; ich muss mit den eigenen Füßen eine Landschaft ausmessen, um diese Landschaft auch in mir zu haben, und es geht mir schon in erster Linie auch um die Gesetzmäßigkeiten, die Naturgesetze, die in mir drinnen stecken. Ich bin sowieso der Meinung, fast religiös gesehen, dass alle Gesetzmäßigkeiten, die im Kosmos stecken, auch in uns drinnen stecken, und über diese Abenteuer, die Erlebnisse in der wilden Natur habe ich die Möglichkeit, die Erfahrungen in mir drinnen aufbrechen zu lassen und sie naiv zu erfahren ... . Es gibt Momente in meinem Leben, da wußte ich, die gesamte Gesetzmäßigkeit dieser Erde - und das laß ich mir auch nicht abstreiten -, und das sind eigentlich die Schlüsselmomente meines Lebens, dass ich ... weiß, das ist die Welt, das ist die Gesetzmäßigkeit, das ist auch der Gang der Welt, das ist das, was vielleicht die Pantheisten als eine natürliche Erleuchtung bezeichnet haben könnten."
Klaus Heinrich: "Mir ist es merkwürdigerweise so ergangen: Wenn die Sirenen heulten und wenn diese Städte hier in Schutt und Asche sanken und ich dann aus dem Keller hochkam, dann dachte ich, das ist die Welt, das ist der Gang dieser Welt. Und dann dachte ich, das ist auch die Natur, die in mir drin ist und nicht nur die Natur draußen. Und seitdem kann ich die Natur draußen nicht mehr als eine sehen, die nicht auch so die ist, die in mir drin ist. Das ist für mich das große Problem ... So etwas wie 'Zurück zur Natur' signalisiert ein Bedürfnis, das Bedürfnis läßt sich nicht draußen befriedigen, sondern muss drinnen zugleich befriedigt werden, und das kann nun sehr Verschiedenes heißen, das kann die eigene unterdrückte Triebnatur sein, das kann das Zurück zu archaischen Formen der Gattungsgeschichte sein - wieder in Orden leben, wieder in Stämmen herumziehen wollen oder sich so stilisieren, als wäre das möglich -, das kann das Zurück zu paradiesischer Natur sein, das kann das Wiederausbrechen als roher Natur bedeuten, und natürlich steht hinter alledem eine Ursprungssuche, die höchst zweideutig ist ... (Das 'Zurück zur Natur' ist) etwas, was im Grunde genommen Wegtun der Zivilisation der Balancierungen von Natur ist, also Ausbrechen von Zuständen, in denen dieser Ausbruch als etwas, was man sich sonst nicht gestatten kann, erlebt wird. Die Ambivalenz läuft mit: Der kleine Ausbruch tut den Einzelnen gut, der große Ausbruch kann eine ganze Gesellschaft erschüttern, wie die Geschichte der großen Kriege in diesem Jahrhundert gezeigt hat."

- Zweimal Besuch beim Buchhändler, in: Marga Schoellers Buchjournal, Jubiläumsausgabe, Berlin 1994, S. 2 f.

- Ithaka Holdes, in: Konturen des Gemeinsinns. Festschrift. Peter Furth zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Stephan Lahrem und Olaf Weißbach in Verbindung mit Bernhard Heidtmann und Peter Ruben, Berlin 1995, S. 37

- Wie eine Religion der anderen die Wahrheit wegnimmt. Notizen über das Unbehagen bei der Lektüre des Johannes-Evangeliums, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, 49. Jg., Heft 4, 1997, S. 345 ff.

- "Das Bewußtsein ist keine hinlängliche Waffe". Zur Faszination der Wahlverwandtschaften heute, in: Goethe. Die Wahlverwandtschaften, hrsg. v. Gisela Greve, Tübingen 1999, S. 11-41

- Epilog des Galilei. Aus einem Gespräch zwischen Klaus Heinrich, B.K. Tragelehn und Stefan Schnabel, in: Günther Heeg: Klopfzeichen aus dem Mausoleum. Brechtschulung am Berliner Ensemble, hrsg. v. Stefan Schnabel, Berlin 2000, S. 129-139. (Zuerst in: Programmheft Leben des Galilei, Berliner Ensemble, Spielzeit 1997/98, Premiere: 12.12.1997, o. P.)

- Der Staub und das Denken. Zur Faszination der Sophokleischen Antigone nach dem Krieg, in: Sophokles Antigone, hrsg. v. Gisela Greve, Tübingen 2002, S. 25-58

Dahlemer Vorlesungen 

Band 1. tertium datur. Eine religionsphilosophische Einführung in die Logik, hrsg. v. Wolfgang Albrecht u.a., Basel und Frankfurt/Main 1981. 

Band 2. anthropomorphe. Zum Problem des Anthropomorphismus in der Religionsphilosophie, hrsg. v. Wolfgang Albrecht u.a., Basel und Frankfurt/Main 1986

Band 3. arbeiten mit ödipus. Begriff der Verdrängung in der Religionswissenschaft, hrsg. v. Hans-Albrecht Kücken u.a., Basel und Frankfurt/Main 1993

Band 4. vom bündnis denken. Religionsphilosophie, hrsg. v. Hans-Albrecht Kücken, Basel und Frankfurt/Main 2000

Band 7. psychoanalyse sigmund freuds und das problem des konkreten gesellschaftlichen allgemeinen, hrsg. v. Hans-Albrecht Kücken, Basel und Frankfurt/Main 2001

Reden und kleine Schriften

1. anfangen mit freud, Basel und Frankfurt/Main 1997. Darin enthalten: I. Anfangen mit Freud. Die 'wiederentdeckte' Psychoanalyse nach dem Krieg (1989). II. Sucht und Sog. Zur Analyse einer aktuellen gesellschaftlichen Bewegungsform (1993). III. Vom Nutzen und Nachteil der Spaltung. Religionsphilosophische Erörterung eines gattungsgeschichtlichen Symbols (1994).

2. der gesellschaft ein bewußtsein ihrer selbst zu geben, Basel und Frankfurt/Main 1998. Darin enthalten: I. Erinnerungen an das Problem einer freien Universität (1967). II. Widerspruch und Verantwortung in der Hochschule (1970). III. Erinnerung an die Fliegen (1985). IV. Zur Geistlosigkeit der Universität heute (1987). Anhang: Die Freie Universität / die steht jetzt fast fünf Jahre (1953).

Dissertationen (begutachtet von Klaus Heinrich) im Netz:

Mohsen Mirmehdi: Prolegomena zu einer systematischen Theologie des Korans

Albrecht Wilkens: Licht und Gewalt bei Caravaggio. Studien zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte einer epiphanen Neuerung

Netzbeiträge zu Klaus Heinrich:

Wien, Palais Pallavicini, Medusa

Irmgard Cornelia Klammer: Interface - das moderne Antlitz der Medusa? Vorlesung im Rahmen der Informatica Feminale an der Universität Bremen

Georg Klein: Kein Abschied, nur eine Zäsur. Zur Emeritierung des Religionsphilosophen Klaus Heinrich, Professor am Religionswissenschaftlichen Institut der Freien Universität Berlin. Herbst 1995

Sigrun Anselm "Zur Emeritierung des Religionsphilosophen Klaus Heinrich": "Der letzte große Repräsentant einer Universitätsutopie" in FU Nachrichten, 8-9, 1995

Kerstin Decker: Nun liegt der Schrecken im Betrachter selbst. Medusa - die zwiespältige Gründung der Zivilisation: der Religionswissenschaftler Klaus Heinrich untersucht Faszinationsgeschichte, Der Tagesspiegel v. 23.8.1996

Rudi Thiessen: Fruchtbarkeit des Denkens. Der Religionswissenschaftler Klaus Heinrich wird siebzig, in: Berliner Zeitung v. 23.9.1997

Am 16.4.1998 schrieb Rudi Thiessen in der Berliner Zeitung: "Eine Fußnote gegen den Rest der Nachkriegsphilosophie. Die jahrzehntelange Fehde zwischen den Religionswissenschaftlern Klaus Heinrich und Jacob Taubes um Geschichte, Apokalypse, Staat und Universität."

Wolfgang Palaver, Wilhelm Guggenberger u.a.: Pluralismus - ethische Grundintuition - Kirche des Forschungsprojektes Religion - Gewalt - Kommunikation - Weltordnung der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Innsbruck: Der Religionsphilosoph Klaus Heinrich sieht darin nicht ein reines Spezifikum Platons, sondern eine Tendenz der gesamten griechischen Philosophie beginnend mit Parmenides. Vgl. K. Heinrich, Parmenides und Jona. Vier Studien über das Verhältnis von Philosophie und Mythologie. Frankfurt a.M. 1992. Der Autor erkennt in der Theologie das alttestamentlichen Jonabuches eine deutliche Ablehnung jeglichen Denkens, das der Zweideutigkeit und Bedrohtheit der Wirklichkeit durch deren Ausschluß - bei Parmenides ist dies die Forderung der Ausgrenzung des Nichts aus dem Denken - beizukommen versucht. Der biblische Gott rechtfertigt die Wirklichkeit trotz ihrer Zweideutigkeit, hält den Bund auch mit den Schwankenden und denen, die sich in ihrer Schuld dem Bund entziehen. Dies führt letztlich zum Heilsdrama, wie es im Ansatz Schwagers verstanden wird (vgl. R. Schwager, Jesus (s. Anm. 67), und widerspricht der parmenideischen Forderung der Figur des Jona nach einer Realisierung des eindeutigen Wortes, "... und sei es um den Preis einer Zerstörung der Wirklichkeit einschließlich der eigenen Zerstörung" (ebd. 120). Auch angesichts der Bedrohungen der modernen Gesellschaft ist es für Heinrich entscheidend, ob wir mit Parmenides nach einem von diesen Bedrohungen unberührten Sein suchen, oder uns mit dem Verfasser des Jonabuches fragen: "... wie halten wir den Bund mit allem, was bedroht von Identitätslosigkeit und Sprachlosigkeit in Selbstzerstörung treibt?" (ebd. 126 f).

Gabriele Werner: Das Lächeln der Diana. Vom Verschwinden des Realen im Mythos, in: Jungle World Nr. 37


"Die Nation beerdigen ..."
Ein Symposium zu Heiner Müllers GERMANIA 1-3 am 9. November 2002, veranstaltet von der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Zusammenarbeit mit der Internationalen Heiner Müller Gesellschaft.

Der Titel des Symposiums stammt aus dem Gespräch Katastrophenfaszination und Totengräberdienst. Klaus Heinrich und Heiner Müller im Gespräch mit Wolfgang Storch, in: Die Nibelungen. Bilder von Liebe, Verrat und Untergang, hrsg. v. Wolfgang Storch, München 1987, 113-116:
Wolfgang Storch: Die Geschlechterspannung wird immer wieder verunklart, oder, wie Heiner Müller sagt: die Angst vor den Frauen wird mobilisiert.
Klaus Heinrich: Also, sich hier anders verhalten, würde bedeuten, nicht eine nationale, sondern eine Gattungsutopie realisieren. Wirklich eine Balance zu finden, die Schluß macht nicht nur mit der fixen Rollenzuweisung, sonder auch dann, wenn diese fixe Rollenzuweisung versagt. - Sofort wird dann der anderen Seite gesagt: Du warst schon immer der Abgrund, und es ist ganz richtig, daß man sich vor dir schützt. Alle Rachemacht kommt von dort, das ist in den Nibelungen so durchexerziert.
Heiner Müller: Mit der Gattungsutopie, das ist ganz klar. Fehlt aber nicht dazu, daß in beiden deutschen Staaten die Nation nicht beerdigt worden ist?
Klaus Heinrich: Man hat ihr zu lange schon die Grabmonumente gebaut. Man hat sich an diesen Zustand gewöhnt.
Heiner Müller: Aber sie ist nicht beerdigt worden, anständig. Es ist, glaube ich, eine Aufgabe, diese Nation zu beerdigen. (S. 115)

Irene Bazinger: Happen von Heiners Schlachtplatte. Labsal alter Knaben: Regisseure, Philosophen und Theologen bei einem Heiner-Müller-Symposion im Jüdischen Museum Berlin, in: FAZ v. 12.11.2002: "... Dem Religionswissenschaftler Klaus Heinrich war es vorbehalten, die Banalität der frommen Denkungsart aufzumischen. Da mußten sogar zusätzliche Stühle für das auf einmal angewachsene Publikum geholt werden. Im Gespräch mit dem Soziologen Peter Kammerer, der ihn listig gefragt hatte, was denn die bei Müller dargestellten Rituale von Selektion und Vernichtung aushebeln könnten, sprach Heinrich zunächst über den als Zyniker verschrieenen Autor, der ihn mit seiner enormen kindlichen Naivität überrascht habe. Der Titel des Gesprächs entstamme übrigens einem Gespräch zwischen dem Dramatiker und ihm. Dessen Stücke schilderten Versuchsanordnungen für psychosoziale und gesellschaftliche Veränderungen.
Alle Figuren darin seien allerdings von dem fasziniert, was sie zerstöre. Erst in der Bewußtwerdung dieses unbewußten Prozesses, in der Gespensterbeschwörung mit dem Ziel der Gespensterbeerdigung realisiere sich Zukunft. Einst habe er in Köln, erzählte Heinrich, an einem Haus ein handgeschriebenes Transparent mit der Aufschrift 'Mehr Mitsprache für die Toten' entdeckt. So kehrte an diesem naßkalten Tag Heiner Müller doch noch aus den Makulaturen der Nachwendejahre wieder unter die Lebenden zurück."

Hugo Velarde: Wie zarter Staub. Vom langen Leben der Toten. Eindrücke auf einem Symposium zu Heiner Müllers Verhältnis zur Nation, in: Freitag v. 15.11.2002

Kerstin Decker: Man muss mit Gespenstern reden. Ein Symposium zu Heiner Müller im Jüdischen Museum Berlin, in: Berliner Zeitung v. 11.11.2002

Kristina Graaff: Die Nation beerdigen.... oder: Zur gegenwärtigen Bedeutung des Dramatikers Heiner Müller, in: DeutschlandRadioOnline v. 11.11.2002

Alexander Reich: Rollende Köpfe. Gespenster am toten Mann: Ein Symposium zum Deutschlandbild Heiner Müllers, in: junge welt v. 12.11.2002

Detlef Kuhlbrodt: Mehr Mitbestimmung für die Toten. Auf dem Symposium "Die Nation beerdigen" sprachen Klaus Heinrich, Gregor Gysi und andere über Heiner Müller, Deutschland und den Krieg, in: taz Nr. 6901 vom 11.11.2002

Doris Akrap: Untotes ist nicht sexy, in: Jungle World v. 27.11.2002


Klaus Heinrich zum 75. Geburtstag gewidmet, schreibt Jürgen Renn: Wissenschaft als Lebensorientierung. Eine Erfolgsgeschichte? Eröffungsvortrag, XI. Europäischer Kongreß für Theologie. Leben: Verständnis. Wissenschaft. Technik. Zürich, 15.-19. September 2002

Evangelische Akademie Tutzing: Idole. Zu Ehren des Religionsphilosophen Klaus Heinrich. 4. - 6.10.2002: "Ehe die Dialektik von Idolatrie und Bildersturm ihren Lauf nahm, gab es die Große Mutter als Prototyp der Idole. Mit ihr und der Reflexionsmacht der Bilder war Heinrichs Philosophie stets im Bunde."


Klaus Heinrich erhielt 2002 den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

Die Deutsche Akademie verleiht jährlich fünf Preise, während der Frühjahrstagung den Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung und den Friedrich-Gundolf-Preis für die Vermittlung deutscher Kultur im Ausland, während der Herbsttagung den Georg-Büchner-Preis, den Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay und den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa. Der Sigmund-Freud-Preis wird "zur Förderung einer Gattung (gelehrte Prosa) verliehen, die der Akademie im Vergleich zu anderen europäischen Literaturen, bei den Schaffenden wie bei den Aufnehmenden, nicht gebührend geschätzt und daher auch nicht genügend entwickelt erscheint". Entsprechend dieser Absicht trägt der Preis den Namen Sigmund Freuds. 

"Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung verleiht den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa 2002 Klaus Heinrich, dem Religionsphilosophen und Kulturanalytiker, der mit seinen eindringlichen, dem reflexiven Potential der Sprache vertrauenden Untersuchungen über das von und in Philosophie, Kultur und Gesellschaft Verdrängte das Projekt der Aufklärung so unerschrocken vorangetrieben hat, daß es nicht mehr davor zurückzuscheuen braucht, die Aufklärung über sich selbst aufzuklären."

Die Laudatio hielt Jochen Hörisch: Die Lust des Denkens. Laudatio auf Klaus Heinrich, in: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Jahrbuch 2002, Darmstadt 2003, S. 162-166

- Klaus Heinrich: Orpheus / Antiorpheus / Prorsa. Dankrede, in: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Jahrbuch 2002, Darmstadt 2003, S. 167-170: „(...)

I

Die altrömische Göttin, die macht, daß das Kind mit dem Kopf voran zur Welt kommt, war die Prorsa oder, in der uns geläufigen Lautform, Prosa. Ausgerechnet sie hat sich bei Freud die entschiedenste Umdrehung gefallen lassen müssen: jeder Satz, wenn er denn den Gedanken fortschreiten läßt, hat sich zurückzuwenden, ist Reflexion; nur durch Rücksichtnahme schreitet die Analyse fort. Die Mehrdeutigkeit, die schon hier ins Spiel kommt, die Überdetermination der Sprache ebenso wie der Symptome, verrät uns die Nähe des nur scheinbar nicht Zusammengehörigen: Rücksichtnahme und Reflexion. Beides, wir erinnern uns, war Orpheus versagt. Sein Gesang, eben nicht Prosa, war ein reflexionsloser Schöpfungsakt - reflexionslos, weil er den Tod aus seiner Schöpfung ausschloß, jedenfalls, solange der Gesang währt. Die Mauern, die er wachsen ließ, waren nicht von Einsturz bedroht, die Tiere, die er auf seine Lichtung bannte, ihrem Trieb entfremdet, das Totenreich, das er beschritt, erstarrte vor seinem Gesang, anders gesagt: die monotonen Tätigkeiten der Verdammten, mit denen sie ein sinnloses Erdenleben fortsetzten, realistisch es so erst sichtbar machend, wurden noch um ihren letzten trostlosen Zusammenhang mit dem Leben und dessen, möglicherweise es verändernder, Erkenntnis geprellt, und der erste Akt der Rücksichtnahme, der seiner in die Unterwelt entführten Mänade Eurydike galt (oder war sie nicht eigentlich von da heraufgekommen? Hatte nicht der Schlangenbiß sie nur zurückgeholt? War ihr Name nicht die passende Bezeichnung für den Rechtsanspruch der Unterwelt?), markiert den Anfang seines Untergangs. Die Macht des Gesangs hatte sich als Schein erwiesen, auch zur Wiedergeburt hätte es einer Göttin bedurft, die macht, daß das Kind mit dem Kopf voran zur Welt kommt und Rücksicht nimmt. Ihm mangelte die Reflexionsmacht der Prosa, die den Bann - auch und gerade dort, wo sie uns in Bann schlägt - löst. Das gesungene Begehren war noch nicht verhandlungsfähig. Die Spannung der Geschlechter, Prototyp jeglichen Banns, daher die äußerste Anstrengung der Reflexion für sich in Anspruch nehmend, fordert zur Verhandlung heraus - sie war der Gegenstand von Freuds Prosa. Dürfen wir uns Freud als einen Antiorpheus vorstellen?

II

Orpheus, in des Aufklärers Ovid Mund, will das Unmögliche möglich machen: zugleich zu singen und ein Plädoyer zu halten. Er singt es, an die Adresse der unterirdischen Götter gerichtet, in Formeln des Römischen Rechts. Statt eines mit Eigentumsanspruch ausgestatteten Geschenks (munus) fordert er im Namen des Menschengeschlechts - daher der Plural (poscimus) an dieser Stelle - den freien unbelasteten Gebrauch (usus). Er wendet dabei die Emanzipationsformel des Lucrez: Niemandem werde das Leben zu förmlichem Eigentum übertragen (mancipium, das Gegenwort zu emancipatio), allen vielmehr nur zu Nießbrauch (usus) überlassen (vitaque mancipio nulli datur, omnibus usu), als Klage gegen die Götter der Unterwelt. Erfolglos, wie wir wissen, denn zu einer Verhandlung wird es, trotz Überstellung der Eurydike, nicht kommen. - Zunächst scheint nur Eurydike das Opfer seiner Rücksichtnahme (dürfen wir vermuten, Reflexion?) zu sein - er, der Kraft seines Gesangs die Unterwelt ohne die ihr gebührenden Opfer betreten hatte, scheint mit heiler Haut davongekommen. Einsam thront er auf seinem Hügel und versammelt um sich das wohlbekannte Naturtheater von Bäumen und Tieren, das später ausgeschmückt werden wird zum steinern-städtischen Theater einer von Musen geschützten friedlichen Zivilisation. Aber der Schwarm der Mänaden, so wie Eurydike eine war, fällt über ihn her, ihr Lärm übertönt Leierspiel und Gesang, den nicht mehr Hörbaren können sie in Stücke reißen, ihn so zugleich als alter Ego des Dionysos kenntlich machend. - Ovid hat in seinem carmen perpetuum, den Metamorphosen, einmal schon die Utopie der Zivilisation verhandelt: ob und wieweit eine gewaltfreie Sublimierung möglich sei, und damit seine Leser, bald zweitausend Jahre später, zur Auseinandersetzung mit dem realistischen Pessimismus Sigmund Freuds provoziert. Aber die Mächte der Ursprungs (Tillichs Wort), die Ovids Identifikationsfigur Orpheus beschwor, ließen sich zu keinem Bündnis bewegen, das weiter reichte als sein Gesang. Wenn wir ihn und zugleich seine Begrenzung ernst nehmen, treten wir in eine Verhandlung ein, die ihn und seinesgleichen in wissenschaftliche Prosa übersetzt.

 

III

Freud hat das getan. Er hat die Klage des Orpheus verhandlungsfähig gemacht und den Prozeß mit der Unterwelt aufgenommen. Auch er beschwört sie im antiken Bild. Sie soll nicht länger bloß der Augenblicksrührung des Orphischen Gesangs unterliegen, so wie die Unterwelt des Ovid, und auch nicht nur die Projektion des Schreckens der real existierenden sein, so wie im ideologiekritischen Furor avant la lettre des Lucrez, sondern endlich, so wie es das stolze Motto seines Jahrhundertbuchs, der Traumdeutung, proklamiert, real, nämlich in uns, und das heißt auch nachhaltig und auf Dauer, bewegt werden. Zwar ist dieses Motto: flectere si nequeo superos, Acheronta movebo (Wenn ich die oberen Götter nicht beugen kann, werde ich die Unterwelt in Bewegung setzen), dem Rachefeldzug der Vergilischen Juno entnommen, und auch der unterweltliche Sänger Orpheus war Freud nur als eine der zahlreichen imagines des geliebten und zerrissenen Urvaters erwähnenswert. Aber das dem Lucrez entlehnte Ovidische Emanzipationsbegehren traf, so jedenfalls in unserer Nachkriegs-Interpretation des existenzialistischen Aufklärers und darum lange liebsten Bundesgenossen Freud, auch auf diesen zu. Der Schrecken der eigenen, kollektiven ebenso wie individuellen Unterwelt, die er das Unbewusste nannte, konnte wohl verdrängt, jedoch nicht verleugnet werden. Nötig war, ihn zu übersetzen. Aber wie sollte das gelingen, ohne die Unterwelt reden zu machen? Nicht Orphischer Gesang, sondern wissenschaftliche Prosa war gefragt. Dazu versicherten wir uns der Hilfe Freuds.

 

IV

Ich komme zum Schluß. Wissenschaftliche Prosa, wie wir von Freud lernen können, hat die Verständigung zwischen unversöhnlich widerstreitenden Instanzen zum Ziel. Sie hat der Anwalt der Stoffe zu sein, die sie zum Reden bringt in einem Prozeß, der so alt ist wie die Gattung selbst, die ihn nicht nur als Entwicklung erleidet, sondern ihn, in einem durchaus juridischen Sinne, anhängig macht. Sie hat nichterledigte, nur scheinbar vergangene Konflikte festzuhalten und Spannungen, die sie zu zerreißen drohen (und die, wie die Religionen lehren, in immer wechselnden Geschlechterrollen fixiert worden sind), auszuhalten und zu balancieren – ein Sisyphusunternehmen, von Freud in ein großes aufklärerisches Lebensexperiment übertragen und expressis verbis dem Selbstzerstörungsprozeß der Gattung erkennend entgegengesetzt. Wissenschaftliche Prosa, sofern sie ihr Gedächtnis nicht verlieren will, ist surrealistisch und prozessual zugleich, in ihr sind der emotionale und der juridische Aspekt voneinander nicht zu trennen, sie könnte sich sonst nicht auf Unterweltsfahrt begeben und zugleich an ihrem aufklärerischen Anspruch festhalten. Die römische Hebammengöttin Prorsa hat einen weiten Weg mit uns zurückgelegt. ...“

 

Ina Hartwig schreibt in der Frankfurter Rundschau vom 28.10.2002 unter dem Titel "Vom universellen Laster des Alleinseins": "Der 1927 in Berlin geborene Religionswissenschaftler gehörte 1948 zu den studentischen Mitbegründern der FU Berlin. Viele der im Darmstädter Theater Versammelten dürften das erste Mal seinen Namen gehört haben. Klaus Heinrichs Wirkstätte ist stets Berlin gewesen; dort allerdings war und ist er so etwas wie ein lebender Mythos. Heinrich bekannte sich entschieden zu Sigmund Freud: 'Ohne ihn hätte ich keine Geisteswissenschaft betreiben können. Genauer gesagt, ohne Freud und seine Einsicht in den "Selbstvernichtungstrieb" der Gattung, wie er ihn, nach der Erfahrung des Ersten Weltkriegs und unter dem Eindruck einer neu sich formierenden selbstzerstörerischen Bewegung nennt, hätte mich die Frage, warum Deutschlands Universitäten dem NS nicht widerstanden haben, der Universität den Rücken kehren lassen.' Jochen Hörisch betonte in seiner Laudatio, niemand habe den Sigmund-Freud-Preis mehr verdient als Klaus Heinrich. Doch vergessen wir nicht, dass Klaus Heinrich, im Unterschied zu Freud, kein leidenschaftlicher Schreiber ist, sondern vor allem ein begnadeter, freier Redner, dem eine ganze Gemeinde jahrzehntelang an den Lippen hing. Wenn Heinrich spricht, ist es immer ganz still. In Berlin wie in Darmstadt."

 Klaus Hartung schreibt über den Preisträger: Sokrates in Berlin, in: Die Zeit 44/2002

Das Französische Goethe-Institut widmet Klaus Heinrich aus diesem Anlaß eine Seite in französischer Sprache.


Festschriften:

Aufmerksamkeit. Klaus Heinrich zum 50. Geburtstag, hrsg. v. Olav Münzberg und Lorenz Wilkens, Frankfurt/Main 1979

Foedera Naturai. Klaus Heinrich zum 60. Geburtstag, hrsg. v. Hartmut Zinser, Friedrich Stenzler und Karl-Heinz Kohl. Würzburg 1988

talismane. Klaus Heinrich zum 70. Geburtstag, hrsg. v. Sigrun Anselm und Caroline Neubaur, Basel und Frankfurt/Main 1998

Sekundärliteratur:

Ulrich Irion: Religiosität ohne Religion. Rudolf Otto, Rudolf Bultmann, Klaus Heinrich, Mircea Eliade, in: Peter Kemper (Hrsg.): Macht des Mythos - Ohnmacht der Vernunft? Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1989 (Sozialwissenschaft Fischer; 6643). S. 289-309

Mythen der Rationalität. Denken mit Klaus Heinrich, hrsg. v. René Weiland und Wolfgang Pircher, Wien und Berlin 1990: Darin enthalten sind:
Wolfgang Pircher: Entkörperungsdenken
René Weiland: Verkörperungsdenken
Günter Schulte: Wissenschaft und Spiritualität
Wolfgang Pircher: Der Name des Ingenieurs. Mytho-technologische Verstrickungen
Anna Roswitha Tremml: Der Treue ein Haus bauen
Gerburg Treusch-Dieter: Das Kästchenproblem. Zum Psyche-Mythos bei Freud
Herbert Hrachovec: Rührseligkeit. Betroffenheit durch Blicke
Johannes Weidinger und Herbert Lachmayer: Der Turm zu Babel oder vor den Trümmern der Geschichte
Matthias Kroß: Ein Bild der Welt entwerfen. Wittgensteins Therapie des Ursprungsdenkens
Felicitas Englisch und Christian Leszczynski: Symbol und Institution. Eine Skizze
Heinrich Kutzner: Eine Ethik und Ästhetik der Existenz? Anmerkungen zur "Anthropologie des postmodernen Menschen"
René Weiland: Der Einzelne, das Ganze, das Allgemeine

Trettin, Käthe: Die Logik und das Schweigen. Zur antiken und modernen Epistemotechnik. Weinheim 1991 - Käthe Trettin nimmt in "Die Logik und das Schweigen" eine kritisch-feministische Befragung der Logik auf das in ihr Verschwiegene vor. Methodisch orientiert sie sich an Theodor Adorno, Jacques Derrida und Klaus Heinrich. Insbesondere verwendet sie den faszinationsgeschichtlichen Ansatz Heinrichs, den sie weiterentwickelt, um in dem als Antifaszinationsprogramm erkannten Unternehmen Logik zwei geschlechtliche Abwehrbewegungen zu benennen: "die ‚männliche‘ Anti-Faszinations-Strategie kehrt zurück als ‚weibliche‘ Faszinationswahrnehmung" (Trettin 1991, S.32). "Der ‚männliche‘ Standpunkt akzeptiert die Logik, verleugnet jedoch deren Faszinationskraft und damit die in ihr verborgenen Kräfte. Vom ‚weiblichen‘ Standpunkt aus sieht man nur noch das Faszinosum, allerdings unter der Form der Abwehr, während die Logik selbst gar nicht mehr wahrgenommen wird." (ebenda, S.33) Ihre Sicht auf die Logik ist die einer Philosophin und Feministin, ihre Untersuchungen beinhalten diese Position, ohne es immer zu explizieren. Sie schreibt: "So daß erst die Feministin, die sich selbst befreiende Frau, die eigentümliche Verstrickung [in Formfaszination und Faszinationsabwehr; MK] erkennen kann." (ebenda, S. 33)

Ilse Bindseil: Tertium datur. Zum Verhältnis von Psychoanalyse, Logik und Religionsphilosophie, in: Sog. Konvergenz und Peripherie der Systeme, Heft 2, hrsg. v. Reiner Matzker, Berlin 1986, S. 51-58


*Ich folge hier der von Hans-Albrecht Kücken vorgelegten Bibliographie der Publikationen von Klaus Heinrich, Phonographie seiner Beiträge in dem Medien (in: talismane. Klaus Heinrich zum 70. Geburtstag, hrsg. v. Sigrun Anselm und Caroline Neubaur, Basel und Frankfurt/Main 1998).

Stand 16. Januar 2003