Unmittelbar zur Liebe

"Jede Epoche ... ist unmittelbar zur Liebe. Daher gibt es immer das innere und das äußere Recht und den Anlaß über sie zu schreiben. Denn wir sind unmittelbar zur Liebe, und alle Unmittelbarkeit bedarf von Zeit zu Zeit der Äußerung. Das Unwägbare zu äußern aber ist die Aufgabe des Schriftstellers, und in diesem Amt bleibt es gleichgültig, ob man philosophischer oder schöngeistiger Herkunft ist. ... daß zur Liebe auch Geist gehört, daß zu ihrer Ausübung zuletzt auch die Theorie unentbehrlich ist. Diese These wird darauf hinauslaufen, einzusehen, daß auch die Bildung zu den Voraussetzungen und den Ingredienzien der Liebe gehört und vor allem aber unerläßlich ist zu ihrer Vollkommenheit, zu jenem unübersteigbaren Grad also, der sie universal und tief genug zugleich gestimmt sein läßt. ... daß die Liebe vom Charakter des Wesentlichen ist. ...Durch die Theorie, der sie insgeheim dient, wird die Liebe eine freie, man kann sagen eine spekulative Liebe, die dahintreibt, ein wenig unersättlich, doch mit Reinheit. Indessen darf man nicht vergessen, daß in der Liebe zwei Dinge zu lieben begonnen haben: das Leben und der Geist, und je klarer sich die Liebe zur Vollkommenheit entscheidet, desto spürbarer wird es, daß jede Liebe anfänglich eine zweifache ist. ... Das Leben liebt anders als der Geist, die lebendige Liebe gestaltet das Leibhaftige in der Liebe; die geistige Liebe gestaltet die Idee der Liebe. ... es ist schwer erreichbar, vollkommen zu lieben. ... Die vollkommene Liebe hat zwei Formen: die ästhetische und die ethische Form. Keineswegs aber ist die ästhetische Liebe nur der leibliche Vollzug und die ethische Liebe das geistige Sein der Liebe. Auch der Geist hat seine Ästhetik und der Leib seine Ethik Die Unterscheidung zwischen ethischer und ästhetischer Liebe wurzelt vielmehr im Verhältnis zur Zeit. Ästhetisch wird die Liebe in dem erwählten Wesen geboren, ästhetisch stirbt sie mit ihm. Ethisch bereitet sie die Wahl des geliebten Wesens vor und hat sie in ihm und durch es ihren Bestand. Denn das Medium der ästhetischen Liebe ist der Augenblick, aber das Medium der ethischen Liebe ist die Ewigkeit. Den Augenblick kann man wiederholen, daher kann man die ästhetische Liebe wiederholen, obwohl sie nicht Ewigkeit hat, weder im Leibhaftigen, noch in der Idee. Die Ewigkeit ist ihrem Begriff nach nicht wiederholbar, weil sie Kontinuität hat und keinen Augenblick. ... das Denken ist eine große Therapie, und insofern wir über sie nachdenken, transponieren wir die Liebe aus dem Ästhetischen in das Ethische, und das Schreiben über die Liebe ist auch eine Therapie, denn beide, das Denken und Schreiben, entreißen in einem Geschlecht die irdische Liebe der Gewöhnung, heilen sie vor dem Ende, bewahren sie ethisch und geben die Liebe weiter an das folgende Geschlecht, allein durch den Geist. ... Immer muß die Phantasie über die Trägheit siegen, sonst geht die mögliche Vollkommenheit der Liebe dahin, sonst löst sie nicht die metaphysische Aufgabe, sonst setzt sie keine Ordnung, sondern Trägheit. Die ästhetische Liebe ist immer Leidenschaft, die ethische Liebe ist immer Aufmerksamkeit. ... Wie in Gestalt eines kleinen Vogels kommt die ästhetische Liebe auf dich zu, wiegt sich auf dem Ast vor deinem Blick in die Zukunft und erinnert dich selbst daran, daß zuletzt der Körper nicht zu schwer werde und über die Leichtigkeit des Herzens siege, aber die Schwere der Natur muß in aller Liebe so sehr bewahrt sein, daß der Bestand der Ordnung und die Höhe des Seins nicht gefährdet wird."

Max Bense (Einleitung in die Philosophie. Eine Einübung des Geistes, 1941)

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