Fri, 11 Aug 1995

From: Michael Meyer

To: telepolis-discussion@mlm.extern.lrz-muenchen.de

 

An die Teilnehmer, Armin Medosch, Gottfried Kerscher der telepolis-Diskussion:

Der Ruf aus dem Internet ertönt an alle Besucher: Teilnehmen, sich auch denkend einzumischen in die sich formierenden Debatten. Metaphern sind Hilfsmittel: hier die digitale Stadt, deren Ausbau den Theoretikern nicht so recht gelingen mag. Die realen Städte werden noch lange lebendiger und vielfältiger, sich, ihre Geschichte und Visionen zitierend, immer wieder neu erfunden.

Sie waren nie Städteplaner, sie bauen sich in ihren Städten konventionelle Schachteln, Fakultäten, Bereiche, so daß das Aussehen nicht nur der Telepolis zwangsläufig wirkt wie eine Stadtmutante: Keine Bewohner, keine Bewegung und keine Lust am städtischen Leben. Als ob ein Reich aufgeteilt wird, an dessen Grenzen ein Einfaltskäppchen aufgestülpt bekommt, wer eintreten will, um es, in der digitalen Stadt reif geworden, gegen eine Repräsentanz im zivilisierten Ausland einzutauschen.

Vielleicht sollten Sie ja schlicht mit einigen kanonischen Texten und Großvaters Visionen von der Stadt beginnen, literarische Zitate hinzufügen, immer wieder mal Chandler und Döblin befragen nach den Schattenseiten, um auf einer soliden, sich ständig erweiternden geistigen Basis Wettbewerbe auszuschreiben, um Bereiche zu bauen nach Maßgabe geübter Nutzer: Die Metapher erlaubt schließlich auch Brüche, Exzisionen, Borges-Bibliotheken, Piranesi-Architekturen, gefahrloses Leben in der Kanalisation.

Bleiben wir also aus Gründen vorbewußter Verständigung bei der Stadt-Metapher, um gleich zu fragen, wie diese digitale Stadt den Land- und Kleinstadtbewohnern den Zugang erleichtert. Unsere Städte leben ökonomisch im großen Stil vom Nepp, von Bauernfängerei: Sie locken die ungeübten Land- und Kleinstadtbewohner mit halbseidenen Vergnügungen. Die Städtebewohner haben andere: Also sollte die digitale Stadt Landbewohner werben, die Nepp und Bauernfängerei verhindern.

Die Stadt als Metapher wählen wir doch, wie wir Bereiche wie Kunst, Unterhaltung, Theorie wählen, weil wir uns sicher fühlen wollen, gerade dort, wo wir im Trüben fischen, denn natürlich spricht im Internet mit seiner Hypertextualität nicht für Separationen. Alles ist mit allem umstandslos verbindbar, und wir erlernen durch stadtarchitektonische Brückenschläge sicherlich nicht, mit der Hypertext-Architektur umzugehen. Weder fordern wir ihr alles ab, noch käme jemand auf die Idee, diesen digitalen Städten Planungsvorgaben für die realen Städte abzugewinnen.

Die Stadtmetapher im Internet wirft uns praktisch und theoretisch weit hinter die Qualität der Textdiskussionen linearer Provenienz zurück. "Bleischwer" liegen konventionelle Texte, unbeweglich abgepackt in den Schachteln der digitalen Stadt, inmitten der avanziertesten Technik, nichts ahnend von dem, was um sie herum geschieht. Jedem sein Häuschen, sein Gärtchen, seine Ecke im Café. Ihre Diskussion: "'BLINDs WORLD 1' im Wissenschafts- oder Kunstkontext" ist doch im WWW / Internet überflüssig, ist es doch 1 Kontext - überlassen Sie bitte diesen nicht den Neppern und Bauernfängern, und fangen Sie endlich an. Warum etabliert sich als Metapher eigentlich nicht eine Freie Republik, warum ausgerechnet eine Stadt, die sich um Abbildlichkeit bemüht und nicht einmal andeutungsweise die traditionellen Stadtutopien miteinbezieht. Eine freie Republik mit dem obersten Grundsatz: Höchstes Maß an Autonomie und die volle Entfaltungsmöglichkeit des Einzelnen. Alle das Gemeinwesen betreffenden Entscheidungen werden an der Basis getroffen: Technisch im WWW / Internet nichts leichter als das.

From each according to his abilities, to each according to his needs.

Mit freundlichen Grüßen,


Michael R. Meyer

Inhalt


copyright 1995 by Michael R. Meyer | meus@ludibrium.de | Zitat / Platz, ungesehn